Privatsache. Thomas Hölscher
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Название: Privatsache

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750219007

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СКАЧАТЬ sich informiert, Pläne gehabt: auf organisierten Rundfahrten hatte er sich erzählen lassen, wann welcher Ort von wem und warum gegründet worden war, weshalb hier Steineichen und Pinien, dort aber Mandelbäume, Oliven und Johannisbrotbäume wuchsen, Antworten auf Fragen erhalten, die er sich noch nie gestellt hatte. Und jedes Mal hatte er es ganz plötzlich satt gehabt. Sollten sie doch hier anbauen, was sie wollten, er wusste doch nicht mal, wie diese blöden Dinger überhaupt aussahen, und es interessierte ihn auch nicht die Bohne. Den idyllischen Zufluchtsort von Chopin und seiner Geliebten, der Schriftstellerin George Sand, hatte er ebenfalls mit dem Leihwagen besucht, aber schon auf dem Weg nach Valldemosa hatte er nicht mehr gewusst, was er da eigentlich sollte. Sein Verhalten war ihm schließlich völlig idiotisch vorgekommen, weil er so krampfhaft nach Sinn suchte, wo doch alles Firlefanz war. Nach Geschichte, wo alles so unübersehbar und unausweichlich ein aufgeblasenes und völlig überflüssiges Heute war.

      Insgeheim wusste er auch schon, dass er heute nicht mehr wie geplant nach Alcudia fahren würde. Und dann mussten auch nur noch die ersten Häuser der stark zersiedelten Umgebung von Port de Alcudia auftauchen, und Börner kehrte um. Er hatte es satt und wollte zurück nach Cala d'Or. Der Ort lag im Südosten der Insel, die Fahrt würde sicherlich eine Stunde in Anspruch nehmen. Vor ein paar Wochen hatte ein starkes Unwetter die Insel heimgesucht und auch einige Straßen unpassierbar gemacht.

      Nur sein Hotelzimmer hatte ihn überrascht. Da ließ es sich aushalten. Von seinem Balkon im zehnten Stock konnte er sogar das Meer sehen. Gebucht hatte er Übernachtung und Frühstück, auf das er aber jeden Tag verzichtete. Ihm waren die Leute einfach zuwider, die sich auf das Büffet stürzten, als hätten sie wochenlang nichts zu essen bekommen. Außerdem hatte er Angst, die anderen Gäste würden seine Fahne bemerken, die er morgens immer hatte. Er nahm sich zwar jeden Tag vor, heute mal ausessen zu gehen, aber er tat es nie. Jeden Tag ging er in einen anderen der zahlreichen Supermärkte und deckte sich mit reichlich Alkohol für die langen Abende ein, die er ausnahmslos auf seinem Balkon im zehnten Stock verbrachte, wo er sich dann einredete, der Urlaub tue ihm wirklich gut. Nur ab und zu hasste er die vielen Menschen, deren ausgelassener Lärm meist bis weit nach Mitternacht aus dem Ort zu ihm drang.

      Am schlimmsten war es am vergangenen Donnerstag gewesen; da hatte er im Suff seinen 34.Geburtstag gefeiert, die Leute ringsum ganz besonders verachtet und sich bis zum frühen Morgen seinem Weltschmerz hingegeben.

      Cala d'Or war dazu angetan, Börners Suche nach irgendeiner sinnvollen Beschäftigung zu fördern. Der Ort war in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft worden, und noch immer deuteten wie planlos in den rostroten Boden gestanzte Straßen darauf hin, dass die Bauwut noch lange keine Ende gefunden hatte. Die Küste war hier felsig und fiel fast senkrecht ins Meer; nur in den engen Buchten waren kleine Sandstrände aufgeschüttet worden. Obschon es erst Ende April war und die Saison kaum begonnen hatte, waren diese Sandkästen für Sonnenhungrige schon am Morgen überfüllt.

      Börner saß jeden Tag auf den Klippen und sah stundenlang aufs Meer. Der harte und von der Witterung zerfressene Felsen hatte seine Turnschuhe bereits völlig ruiniert. Manchmal döste er auch kurz ein, wenn er sich nur lange genug von dem Rhythmus der Brandung hatte einlullen lassen. Vor allem hatten es ihm die Geräusche der Wellen angetan, die in die Auswaschungen der Felsen schlugen, keinen Platz mehr fanden und mit prasselndem Geräusch wieder aufs Meer zurückgeworfen wurden. Nur wirklich schlafen konnte er nie.

      Und dass man die Zeit vergessen konnte, glaubte Börner ohnehin nicht.

      Dabei war gerade das letzte Jahr dazu angetan, so schnell wie möglich aus der Erinnerung gestrichen zu werden. In diesem Monat bekam er zum letzten Mal sein Arbeitslosengeld, und was dann kam, das wusste er einfach nicht. Die Leute vom Arbeitsamt natürlich auch nicht. Aber was sollten die denn für ihn auch finden? Was sollte man machen mit jemandem, der anscheinend ohne jeden Grund vor sechs Jahren den Dienst bei der Kripo verlassen hatte? Der anschließend in einem Anwaltsbüro in Essen gearbeitet hatte und dort wegen Arbeitsverweigerung rausgeflogen war?

      Gar nichts konnte man mit so einem machen.

      Nicht zu vermitteln.

      Vielleicht einen Strick schenken.

      Mittlerweile war er eine arme Sau. Das hatte ausnahmsweise nichts mit Selbstmitleid zu tun, es war einfach so. Die Reise nach Mallorca hatte er sich nur antun können, weil er seinen Wagen verkauft hatte. Ein Mann aus der gerade zerfallenden DDR war ganz heiß gewesen auf den alten Golf-Diesel und hatte viel zu viel für den Schrotthaufen bezahlt. Der Rest des Geldes reichte vielleicht noch für zwei Monate.

      Und dann? Es war ihm völlig schleierhaft.

      Vielleicht konnte er sich ja als Stricher ein paar Mark verdienen. Natürlich war diese Idee verrückt, und doch hatte er sich in den letzten Tagen immer öfter im Spiegel betrachtet und seinen Marktwert bei anderen Schwulen taxiert. Trotz seiner Sauferei sah er eigentlich noch ganz gut aus. Aber mit 34 würde es für einen fulltime-Job in dieser Branche ohnehin nicht mehr reichen. Höchstens zur Aufbesserung des Taschengeldes.

      Das Ortsschild von Cala d'Or tauchte auf, und Börner sah auf seine Uhr. Es war kurz nach drei. Er konnte den Wagen also noch nicht zurückbringen, das Büro war um diese Zeit geschlossen. Er stellte den Wagen mitten im Ort ab und stieg aus.

      Er stand direkt vor einem unglaublichen Angebot von Tageszeitungen. Es gab hier einfach alles: englische, deutsche, französische, niederländische, italienische Zeitungen, und schon mehrfach hatte er sich gefragt, wie dieser ganze Kram so schnell hier sein konnte. Börner durchwühlte mürrisch das Angebot und blätterte in verschiedenen Zeitungen, obschon Schilder in fehlerhaftem Deutsch und Englisch darauf hinwiesen, dass man genau das nicht tun sollte. Schließlich kaufte er eine WILD-Zeitung.

      Gerade in den letzten Tagen war dieses Revolverblatt endgültig peinlich geworden. Die Annexion der DDR war bereits beschlossene Sache, im Juni sollte die D-Mark auch dort eingeführt werden, und wegen derartiger nationalen Großereignisse brachte WILD seine Schlagzeilen fast nur noch in schwarz-rot-gold. Schon mehrfach hatte Börner das Gefühl gehabt, dass Ausländer diese Schlagzeilen skeptisch angesehen hatten.

      Im Aufzug zu seinem Balkon im zehnten Stock vergaß Börner die erste Seite; sie war schwarz-rot-gold und interessierte ihn überhaupt nicht. Was ging es ihn schließlich an, wieviel D-Mark die DDR-Bürger bekommen sollten? Dass er vom nächsten Monat an keine mehr bekam, machte ihm viel mehr Sorgen. Wenn ihn in diesem Zusammenhang überhaupt etwas interessierte, dann war es die stets mit einem mulmigen Gefühl verbundene Frage, wie lange diese Gesellschaft noch fähig und willens war, sich einen Paradiesvogel wie ihn zu leisten; es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass das Klima schon in allernächster Zukunft rauer würde. Und kälter. Die Einverleibung der DDR würde schließlich vor allem ein Heer neuer Arbeitsloser bedeuten und die Toleranz gegenüber solchen Leuten noch weiter reduzieren. Auf der vierten Seite seiner Lektüre blieb der Aufzug stehen.

      Und dann wollte Börner seinen Augen nicht trauen: Gelsenkirchen in der WILD-Zeitung, das gab es auch nicht alle Tage! Und als er den Artikel "Unglaublich aber wahr - Rechnung nach 50 Jahren beglichen" überflogen hatte, begannen seine Hände zu zittern: Das Altenheim, in dem dieser angeblich unglaubliche Mord geschehen war, lag nur wenige Straßen von seiner Wohnung in Schalke entfernt.

      Er wollte nach Hause. Jetzt erst recht.

      Am letzten Tag, das hatte er sich bereits seit Tagen vorgenommen, wollte er auf keinen Fall trinken. Der Bus zum Flughafen würde ihn bereits um fünf Uhr morgens abholen und er hatte eine panische Angst davor zu verschlafen. Außerdem wollte er in einem bis auf den letzten Platz ausgebuchten Ferienbomber keine Alkoholfahne haben, selbst wenn das wegen der zu erwartenden großen Zahl an Ballermann-Touristen wohl nicht sonderlich auffallen würde. Um müde zu werden, lief er den ganzen Tag durch den kleinen Ort, bis er selber davon überzeugt war, es könne nun keinen einzigen Stein in СКАЧАТЬ