Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
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Читать онлайн книгу Der Pferdestricker - Thomas Hölscher страница 37

Название: Der Pferdestricker

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750219397

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СКАЧАТЬ als Professor Streiter bekannt gab, diese Zirkeldefinition des französischen Marxisten Jean Gabel lediglich als provokante, von ihm aber letztlich abgelehnte These an den Beginn seiner eigenen Ausführungen stellen zu wollen, war es immer noch fast quälend laut. Erst als Streiter von sich gab, dass selbstverständlich der Entdialektisierungs- und Verdinglichungsprozess der gemeinsame Nenner sowohl der Ideologie als auch der Schizophrenie sei, dies aber nun wirklich schon den Status eines Gemeinplatzes habe, wurde es endlich ruhiger. Und dennoch war Streiter weiterhin davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit seiner Studenten ihn nicht verstanden hatte. Akustisch mittlerweile vielleicht, aber ansonsten auf keinen Fall. Seine berufliche Haltung war vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er Studenten durchweg für dumm hielt, für eine verwöhnte, wurstige Masse, die einfach nicht einsah, welche Möglichkeiten sie seiner Meinung nach hatte: sich die ganze Welt durch Bücher in die eigenen vier Wände zu holen.

      Und genau dazu schienen die anwesenden jungen Leute gerade an diesem Tag gar kein Interesse zu haben. Draußen herrschte nämlich das schönste Märzwetter, das man sich durch Streiters langweiliges Gerede jedenfalls nicht in diesen von Neonlicht erleuchteten Betonbunker holen konnte. Und außerdem hatte fast die Hälfte aller anwesenden jungen Leute irgendein elektronisches Gerät bei sich, mit dem sie sich völlig ungeniert das auf kleine und größere bunte Bildschirme holten, was sie für die Welt hielten.

      Auch Inga Weber hing derartigen Gedanken nach. Sie saß auf einer der unteren Stufen des Hörsaals, hielt einen Schreibblock nur mühsam auf den Knien und einen Kuli in der rechten Hand für den Fall, dass doch noch irgend etwas Bemerkenswertes dem professoralen Munde entschlüpfen sollte. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies nicht der Fall sein würde, und deshalb hatte sie lange gezögert, die Vorlesung am heutigen Vormittag zu besuchen. Letztlich war sie überhaupt nur in die Vorlesung gegangen, um die lange Straßenbahnfahrt von Gelsenkirchen nach Bochum irgendwie zu rechtfertigen. Außerdem hatte Stefan heute seine letzte Nachtschicht hinter sich gebracht, und an solchen Tagen konnte man ihn vor dem Nachmittag ohnehin nicht aus dem Bett bekommen.

      Nach drei Semestern war sie von dem Fach Psychologie maßlos enttäuscht. Sie hatte sich etwas ganz anderes darunter vorgestellt. Was genau, das konnte sie auch heute noch nicht sagen, etwas ganz anderes eben, und nun würde sie lieber heute als morgen die Brocken hinwerfen. Aber da war eben die paar Euro Bafög, die sie bekam, weil ihre Eltern ihr nicht das gesamte Studium bezahlen konnten; als Lehrer verdiente ihr Vater zwar eigentlich ganz gut, aber das vorhandene Familieneinkommen musste auf vier Kinder verteilt werden, die allesamt noch studierten und von denen sie das jüngste war. Und dieses verdammte Stipendium verlangte von ihr nach jedem Semester irgendwelche Scheine, Belege und Prüfungen, die sie bis jetzt nur mit manchmal unbeschreiblichem Ekel hinter sich gebracht hatte. Jedes Semester war dieser Ekel noch ein Stück schlimmer geworden, und in den letzten Wochen war es ihr immer öfter so vorgekommen, als würde eine Verbindung nach der anderen zur wirklichen Welt gekappt. Manchmal hatte sie sich schon gewünscht, mit Pauken und Trompeten durch diese Prüfungen zu fliegen, damit endlich irgendeine Entscheidung gefallen war; denn mit jeder bestandenen Prüfung kam ihr ein Entrinnen aus diesen perversen Zusammenhängen unmöglicher vor.

      „Die Schizophrenie, meine Damen und Herren, soll also eine Ideologie im Kleinen, im Individuellen sein? Die Ideologie eine Schizophrenie des kollektiven Bewusstseins?“ Die mittlerweile als Frage wiederholte Behauptung des Anfangs der Vorlesung erreichte sie nur, weil Professor Streiter offensichtlich auch noch ein großes Vergnügen dabei empfinden konnte, sich mit einem solchen Firlefanz zu beschäftigen. Wer keine Probleme hat, dachte sie, der macht sich eben welche. Vor allem dann, wenn er für diesen Blödsinn auch noch so viel Geld bekommt.

      Sie hatte schon oft daran gedacht, mit Stefan ganz offen über die Dinge zu reden, die sie seit ein paar Monaten bedrückten, aber das hatte sie einfach nicht geschafft. Obschon auch sie eine eigene kleine Bude in Bochum hatte, lebten sie doch fast immer zusammen in Stefans Wohnung, und schließlich verdiente Stefan bei der Polizei ganz gut. Als sie nun auf den professoralen Mund sah, der sich öffnete und schloss wie bei einem Fisch, den man im Aquarium beobachtete, ohne dass sie auch nur ein Wort mitbekam, fragte sie sich wieder, weshalb sie noch nie mit Stefan über diese Sache geredet hatte. Sie kannten sich schließlich schon ein halbes Jahr, und ein paar Mal schon hatte sie davor Angst verspürt, dass ihre Beziehung zerbrechen könnte, wenn sie nicht bald irgendwelche wichtigen Entscheidungen treffen würden.

      Stefan würde ihr sofort sagen, hör doch einfach auf, ziehe doch ganz zu mir. Lass uns doch heiraten.

      Und vielleicht war es gerade das. Manchmal warf sie sich vor, selber nicht zu wissen, was sie eigentlich wollte. Aber vor diesem Schritt hatte sie Angst, und sie wusste, dass sie tausend Gründe aus dem Hut zaubern konnte, um Stefan von solchen Ideen abzubringen. Wir kennen uns doch erst ein halbes Jahr, ich bin schließlich erst 22, du willst doch im Herbst auch noch deinen Kommissarslehrgang beginnen. Und immer hatte Stefan Verständnis gezeigt. Warum schlug er nicht mal mit der Faust auf den Tisch?

      Warum nahm er soviel Rücksicht auf ihre Angst?

      Warum machte er nicht endlich, was sie wollte, sondern wartete darauf, dass sie das auch noch formulierte.

      Irgendwann kündigte das matte Tischklopfen derjenigen, die noch nicht eingeschlafen waren, das Ende der Bewegungen des professoralen Mundes an. Jeder schien es eilig zu haben, die quälende Enge des Hörsaales zu verlassen. An den Ausgängen wurden die meisten durch das grelle Sonnenlicht geblendet.

      Auf dem Wandelgang traf sie auf Elke, die vor zwei Jahren mit großer Begeisterung Germanistik und Philosophie begonnen hatte und sich nun mit Althochdeutsch, Einführungen in die Logik und wissenschaftstheoretischem Gerede platt gemacht fühlte. „Gehst du auch mit in die Mensa?"

      „Ich habe eigentlich gar keinen Hunger", meinte Inga.

      „Komm trotzdem mit!" Elke hatte sie schon untergehakt und in Richtung Mensa mitgeschleift. „Sag mal, geht es dir heute nicht gut?"

      „Warum?"

      „Du siehst so bedröppelt aus."

      „Hör du dir mal anderthalb Stunde so einen Quatsch an!"

      „Was glaubst du denn, was ich mir heute schon angetan habe!", lachte Elke. „Zuerst Otfried von Weißenburg und dann definiter Klassenkalkül und klassische Urteilslehre." Elke schien sich plötzlich totlachen zu wollen. „Wenn sie doch wenigstens Preise aussetzten für diejenigen, die sich einen noch überflüssigeren Quatsch aushecken können." Für einen Augenblick verspürte sie so etwas wie Dankbarkeit, dass Elke sie nun einfach mit sich zog und irgendwelchen Widerspruch ganz offensichtlich gar nicht erst hinnahm.

      Als sie ins Freie traten, waren sie überrascht. Es war unglaublich warm geworden; noch am frühen Morgen hatte es so ausgesehen, als wolle sich das nasskalte Frühlingswetter der letzten Wochen fortsetzen. Der Himmel war strahlend blau, und vom Eingang der Mensa aus konnte man kilometerweit über das Ruhrtal blicken.

      Als Elke in der Schlange vor der Essensausgabe ein paar weitere Bekannte begrüßte, bereute Inga bereits, mitgegangen zu sein. Sie kannte diese Leute und mochte sie nicht. Seit ein paar Monaten war Elke Mitglied in einer linken Basisgruppe, und obschon sie die nassforsche Art dieser Menschen bewunderte, die sich einfach nichts gefallen ließen, sah Inga in der ganzen Sache keinen Sinn. Beschäftigungstherapie war das letztendlich, das hatte sie sich schon oft gesagt. Oder besser, sie hatte es sich eingeredet; denn in Wirklichkeit fühlte sie sich durch diese Leute zutiefst verunsichert, die alles in Frage stellten und nichts gelten ließen. In deren Gegenwart konnte sie nur zuhören, hatte noch nie gewagt, zu irgendetwas ihre eigene Meinung zu äußern, hatte eine eigene Meinung vielleicht auch gar nicht mehr gehabt. Nur ein seltsames, tief sitzendes Unbehagen. Die Angst davor, sich nur blamieren zu können. Ihre Liebe zu Stefan würden diese Leute als kleinbürgerliche Beziehungskiste oder sonst wie in СКАЧАТЬ