Schnee von gestern ...und vorgestern. Günther Klößinger
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Название: Schnee von gestern ...und vorgestern

Автор: Günther Klößinger

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783737520829

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СКАЧАТЬ ein Dokumentarfilm spielte der Traum nun minutiös Pennys nachmittägliche Untersuchung erneut ab. Hier hatte also der heimliche Beobachter gelauert. Verwischte Fußspuren im Erdreich. Profil von Schuhen teilweise erkennbar. Penny übertrug diese eins zu eins auf ein Stück Butterbrotpapier. Zigarettenstummel: keine. Buschwerk an manchen Stellen geknickt, wahrscheinlich, um hindurchsehen zu können. Die Detektivin glaubte nicht an einen harmlosen Spanner. Nicht so kurz nach dem brutalen Anschlag auf Jeannie. Penny hatte ihre Bedenken aber nicht oder nur vage ausgesprochen, um die Freunde nicht unnötig zu beunruhigen. Moment mal: warum eigentlich „unnötig“?

      Nun, im Ganzen tummelten sich mittlerweile circa fünfzehn Jugendliche und einige Asylbewerber auf dem alten Gehöft, manche von ihnen sehr stämmige und kräftige Männer. Und auch Yasemin, Jasmin und Jessica waren alles andere als hilflose Mädchen in Statistenrollen. Pennys Beunruhigung schwand. Vorsichtig präparierte sie den Boden um den Busch und darunter. Sollte der Spanner erneut hier auftauchen, würde er noch deutlichere Spuren in der Erde hinterlassen: Mit einem Zweig strich Penny einige nur spärlich bewachsene Stellen des Waldbodens frei. Dann goss sie eine ganze Flasche Mineralwasser darüber aus. Schließlich streute sie eine hauchdünne Schicht frischer Erde auf den Boden, sodass die Feuchtigkeit auf den ersten Blick nicht erkennbar war: Sicher, das würde nicht lange halten. Und doch verbesserte es bei einer Rückkehr des Unbekannten die Chance auf einen weiteren Schuhabdruck. Davon könnte sie sogar einen Gipsabguss machen. Sollte es heute nicht klappen, würde sie die Aktion noch einige Male wiederholen und diesmal einen ganzen Kanister voll Wasser mitbringen oder Lehm unter der oberen Schicht des Waldbodens einlegen oder ...

      „Gute Arbeit, Penny!“

      Sie schrak hoch: Hinter ihr stand Steffens. Er hatte sich seines Trenchcoats entledigt und außer grün gestreiften Ringelsocken trug er nichts mehr am Leib. Beim Anblick der Strümpfe begann Penny zu kichern. Sie versuchte, das aufsteigende Lachen zu unterdrücken, aber vergebens – wie eine vulkanische Eruption brach es aus ihr heraus, wurde lauter und lauter.

      Als Penny schließlich die Augen aufschlug, stellte sie verwirrt fest, dass die Weichzeichnerimpressionen verschwammen. Sie wurden von der Nacht unbarmherzig verschlungen. Pennys Herz klopfte bis zum Hals, die völlige Dunkelheit verwirrte sie, bis sich vier glutrote Ziffern aus dem Schwarz schälten: 03:59.

      Nick hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Nur um in Aktion zu bleiben, stocherte er mit einem Ast in dem nahezu völlig verloschenen Lagerfeuer herum: Er hatte die komplette Nachtwache übernommen. Die anderen hatten sich kurz nach Mitternacht in die Stallungen zurückgezogen und sich in ihre Schlafsäcke gerollt.

      „Willst du meinen gegen die Kälte?“, hatte Robert gefragt, der sich wohl stattdessen an Jessica kuscheln würde. Diese hatte extra den Doppelschlafsack ihrer Eltern für die Aktion hier gemopst.

      „Nö!“, hatte Nick nur trotzig genölt, was er nun allerdings bereute: Die alte, speckige Decke, in die er sich gewickelt hatte, hielt ihn nur unzureichend warm. Darüber hinaus hatte der kratzige Fetzen weniger Wirkung als ein Placebo. Das kalte Weiß des Mondes schien Nick bis zu den Knochen hin zu durchfluten und die Glut vor ihm verströmte außer etwas gräulichem Qualm nichts Behagliches. Er drehte sich eine Zigarette.

      „Ich liebe deine schiefen Kippen!“, hatte Jasmin früher immer gesagt, aber im Zuge ihrer Vergötterung von Ilka und deren Lebensweise hatte seine Freundin das Rauchen aufgegeben. Er steckte die Zigarette in seinen Mundwinkel und zündete sie an.

      „Meine Freundin!“ Gemeinsam mit einer Rauchwolke blies er die Worte hinaus. Sie kamen ihm merkwürdig vor. Hätte nicht auch jemand anders über Jeannies Schlaf wachen können? Mehmet wäre doch ein viel besserer Bodyguard! Warum ließ Jassy ihren treuen Hofzauberer hier allein? Wieder verwendete er blauen Dunst als Sprechblase: „Ich liebe meine Prinzessin!“

      Dabei kam Nick sich vor wie ein Schauspieler, der, noch im Probenstadium, Textschwierigkeiten hatte. Sicher, die Worte klangen zärtlich, aber sein Herz schlug ohne jedes Stolpern regelmäßig weiter. Die Sehnsucht nach Jasmins Körper stellte sich als bloßes Verlangen nach Wärme heraus, als Nick genauer darüber nachdachte. Wie oft hatten sie Rücken an Rücken gesessen, hatten geraucht, waren ihren Gedanken und Träumen nachgehangen. Nick sehnte sich so sehr nach dieser vertrauten Innigkeit, dass er glaubte, Jasmins Rücken an seinem zu spüren. Gleichzeitig meinte er zu fühlen, wie ihre Körper sich die Wärme teilten. Plötzlich stutzte er: Ihm wurde tatsächlich wärmer und es hatte sich wirklich jemand an ihn gelehnt. Verblüfft wandte er sich um. Er erwartete, Jasmin hinter sich zu sehen. Nick wünschte sich nur einige liebe Worte von ihr, nicht mehr und nicht weniger. Sein Herz begann nun doch zu hüpfen und der gute alte Kloß im Hals war auch wieder da. Nicks Traum von Jasmin platzte allerdings wie eine Kaugummiblase – oder vielmehr: mit einer Kaugummiblase.

      „Yasemin?“, fragte Nick und bemühte sich, das File „Love“ abzuspeichern und in ein anderes Unterverzeichnis zu wechseln.

      „Kann nicht schlafen!“, flüsterte Yasemin, und Nick fragte sich, was da in ihrer Stimme mitschwang: Müdigkeit? Vielleicht, aber irgendetwas in den Worten des Mädchens griff nach seinem Herz. Es begann in einen anderen Takt hineinzustolpern. Nick brauchte einige Sekunden, um festzustellen, welche Emotion da in ihm pulsierte, ausgelöst von Yasemins Anwesenheit. Es war eine ganz bestimmte Form der Furcht.

      Als die Kurdin ihn fragte: „Darf ich dir ein bisschen Gesellschaft leisten?“, erkannte er sie genau: die Angst vor der Traurigkeit. Er wollte nicht zulassen, dass sie sich in ihm breitmachte. Selbstmitleid war eine Sache, aber echte Traurigkeit war etwas, wovor er regelrecht Panik hatte. Er spuckte seine Kippe in die Glut und räkelte sich, um die Beklommenheit aus seinen Gliedern zu vertreiben. Yasemin rückte näher an Nick heran, als dieser sich ausgiebig streckte und eine Symphonie des Gähnens zelebrierte.

      „Du bist müde“, stellte sie fest, „schlaf ruhig ’ne Runde, ich übernehme die Wache!“

      Nick wollte noch protestieren, doch außer einem leisen Schnarchen kam kein Laut mehr über seine Lippen. Yasemin beobachtete das Verschwinden des Mondes. Als zarte, rosa getönte Wolken die Morgensonne ankündigten, rannen ihr Tränen über die Wangen. Ein neuer Tag, der postkartenkitschig beginnt. Wieder ein Tag ohne Zuhause, immer auf dem Sprung, sich zu verstecken. Noch dazu mit diesen Bildern im Kopf, die sie seit ihrer Kindheit mit sich herumtrug – im schwarzen Album unauslöschlicher Erfahrungen. Entsprachen die Erinnerungen noch der Wirklichkeit, wenn sie Vater und Mutter vor sich sah? Oder spielte das Gedächtnis ihr üble Streiche. Sie hatte damals, als kleines Schulmädchen, noch keine Zusammenhänge verstehen können. Erst nach und nach, seit sie ihre Kindheit gegen eine – erzwungenermaßen – überreife Jugend tauschen musste, begriff sie so manches: Ihre Eltern waren Geschäftsleute gewesen, ehrbar und erfolgreich. Zumindest spukten da Bilder von einem Büro in Yasemins Gedanken herum. Nette Frauen saßen an Schreibmaschinen. Vater lächelte sie meist freundlich an. Eine der jungen Damen hatte Yasemin immer Karamelldrops zugesteckt. Und Kaugummi. Obwohl Yasemins Eltern sich ihrer kurdischen Abstammung bewusst waren, blieben sie nahezu unpolitisch. Sie hatten viel gebetet. Auf Yasemins Nachfragen, was sie mit dem da oben besprächen, war die Antwort immer dieselbe gewesen: „Wir bitten um Frieden!“

      „Welchen Frieden?“

      „Für unser Volk!“

      „Ist denn Krieg mit unserem Volk?“ Dies war die Frage, auf die Yasemin nie eine Antwort erhalten hatte. Egal, wie überzeugend sie mit ihren großen Haselnussaugen auch schaute – die Eltern schwiegen.

      Das Geschäft, das ihr Vater in Ankara aufgebaut hatte, war erfolgreich gewesen – zu erfolgreich. Die Konkurrenten hatten Wind von der Abstammung der Familie bekommen und beschuldigten sie, der Führungsriege der PKK anzugehören. In Windeseile hatte ihr Vater versucht, ihre Flucht zu arrangieren. An dieser Stelle gerieten Yasemins Erinnerungen für gewöhnlich in einen Hagel СКАЧАТЬ