Gegenwindschiff. Jaan Kross
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gegenwindschiff - Jaan Kross страница 14

Название: Gegenwindschiff

Автор: Jaan Kross

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783955102630

isbn:

СКАЧАТЬ deutete auf die pedalbetriebene Drehbank vor dem Regal.

      Vater rief: ›Aber das Ding ist ja sicher fünfzig Jahre alt – um nicht zu sagen aus Spinozas Zeiten?!‹

      ›In der Tat‹, sagte Schmidt, ›gute fünfzig Jahre. Nur habe ich sie selbst justiert.‹

      Vater sah sich ungläubig um und blickte zu Schmidt, weil dessen Antwort seiner Meinung nach absurd war. Auch meiner Meinung nach. Weshalb Vater nochmals fragte:

      ›Und das ist wirklich Ihr ganzes Instrumentarium?‹

      ›Ja. Natürlich inklusive meines Hauptinstruments‹, sagte Schmidt – wissen Sie, und deutete dabei ein eigenartiges, leicht rüpelhaftes Grinsen an. ›Und das ist nicht viel neuer. Es ist sechsundvierzig Jahre alt …‹

      ›Um welches Instrument handelt es sich?‹, fragte Vater.

      Schmidt sagte: ›Um dieses‹, und streckte seine eine Hand meinem Vater recht unhöflich unter die Nase.

      Natürlich nahm mein Vater es ihm nicht übel. Dafür interessierte Schmidt ihn zu sehr, verstehen Sie? Also begann er zu lachen und sagte:

      ›Gut, gut. Dieses Instrument, selbstverständlich. Aber das hat doch jeder Handwerker, bei manchen ist es natürlich etwas genauer als bei anderen. Die zentrale Frage ist in solchen Fällen doch die nach der Methode. Sie sagten ja selbst, dass Sie eine neue Methode hätten. Erklären Sie, worin diese besteht!‹

      Schmidt blickte Vater direkt in die Augen und spitzte die Lippen, und ich konnte nicht beurteilen, wie ernst oder unernst man seine Antwort nehmen konnte. Er formulierte es, wenn ich mich recht erinnere, etwa so:

      ›Die Methode ist selbstverständlich neu. Oder eben sehr alt. Die älteste. Nur wird sie selten praktiziert.‹

      Er schwieg und Vater ließ nicht locker: ›Das ist verdammt interessant. Worum geht es also?‹

      ›Es geht darum, dass ich das Glas frage.‹

      ›Fragen? Wie das?‹

      ›Ich frage das Glas. Ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe oder mich verrenne.‹

      ›So? Und das Glas antwortet?‹

      ›Mhm.‹

      ›Und dann?‹

      ›Dann tue ich das, was es mir sagt.‹

      Vater lachte schallend: ›Und welche Sprache benutzen Sie?‹

      Schmidt lächelte, sicher, aber ich beobachtete ihn aufmerksam, und mir schien, dass er in gewisser Weise wirklich durcheinander war:

      ›Hm, darüber habe ich noch nie nachgedacht … Glassprache … Oder vielleicht Estnisch. Ja, gewiss Estnisch‹, sagte er mit fast schon kindlicher Heureka-Freude, wie mir schien.

      Vater lachte: ›Das muss ja eine recht spiegelhafte Sprache sein!‹ Er setzte sich auf den Rand der langen Werkbank, als sei er zu Hause und begann damit, Schmidt konkrete Fragen zu stellen: Etwa, ob es der Wahrheit entspreche, dass er, Schmidt, wie man sich erzählte, in der Lage sei, mit seiner Hand zonale Abweichungen von Tausendstel Millimetern auf der Oberfläche eines Parabolspiegels zu fühlen. Schmidt bestätigte, dass dies der Wahrheit entsprach. Vater sagte, verzeihen Sie, Herr Schmidt, aber das glaube ich Ihnen nicht. Schmidt ging zur anderen Seite der Werkbank und zog zwei, drei große Schubladen heraus. Darin lagen konkave Spiegel mit verschiedenen Durchmessern, von fünfzehn bis dreißig Zentimetern:

      ›Suchen Sie sich einen aus, Professor. Das sind Arbeiten der Glashütte Goerz. Allesamt ungleichmäßig.‹

      ›Einverstanden‹, sagte Vater, ›ich nehme den in der Mitte. Und was nun?‹

      ›Nehmen Sie das Eichmaß hier. Sie prüfen mit dem Eichmaß die Abweichungen und schreiben sie auf. Wie bei einer Zielscheibe. Uhrzeit und Punkte. Und die Größe der Abweichung. Wenn wir sie gefunden haben. Ich prüfe sie mit der Hand. Und schreibe meine Ergebnisse selbst auf. Danach vergleichen wir unsere Notizen und kontrollieren die Ergebnisse.‹

      Wissen Sie, die beiden haben sich eine Stunde lang mit diesem Spiegel abgemüht. Soll heißen, Vater mühte sich eine Stunde mit dem Eichmaß ab. Und fand natürlich fünf oder sechs kleine Abweichungen.«

      Herr Kelter gibt mir und sich Eiswürfel ins Glas. Und ich frage mich: Sammelt er gerade Kraft für ein großes Geständnis oder für ein großes Dementi? Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten:

      »Und Schmidt?!«

      »Tja. Sehen Sie, es war tatsächlich so. Als Vater fertig war, ging Schmidt zum Tisch und schob mir ein weißes Blatt Papier zu: ›Junger Mann, schreiben Sie auf!‹ Verstehen Sie, er hatte keine freie Hand dafür. Er legte seine Hand auf den Spiegel. So leicht, dass es schien, als hätte er den Spiegel überhaupt nicht berührt. Wissen Sie, wie jemand, der Teller jongliert, ohne die Teller zu berühren. Natürlich berührte er den Spiegel. Aber ganz sachte. Und begann mit drei Fingern, vielleicht auch nur mit dem Mittelfinger, vom Zentrum aus eine Spirale zu zeichnen. Im Uhrzeigersinn. Dabei blickte er nach unten, auf den Spiegel, aber ich hatte den Eindruck, dass seine Augen in Wirklichkeit geschlossen waren. Und dabei murmelte er die Daten, die ich aufschrieb. ›Acht Punkte, elf Uhr bis zwei. Eine Unebenheit von bis zu zwei hundertstel Millimetern …‹ Und so weiter. Insgesamt fand er – so erinnere ich mich – elf Unebenheiten. Dann maßen er und mein Vater die Abweichungen mit dem exaktesten Mikrometer nach. Und verglichen die Tiefen und Höhen der Abweichungen, die sie jeweils gefunden hatten. Nun, es hat ja keinen Sinn, eine wissenschaftliche Tatsache zu leugnen. Sofern man dieses Kuriosum so bezeichnen kann. Schmidts Daten waren exakter als die meines Vaters.«

      Ich stelle das Wermutglas auf den Tisch und sage – wobei der Satz mit mehr Begeisterung aus mir herauskommt, als ich vorhatte:

      »Aber Herr Kelter, das ist genial!«

      »Oh, kein Grund, so ein großes Wort zu benutzen. Von Genialität ist das weit entfernt. Aber auf seine Weise war es fast perfekt. Das schon. Wissen Sie, überträgt man diese Fähigkeiten, die er hatte, sagen wir, auf den Bereich der Musik, kann man sagen: Er hatte einfach ein absolutes Gehör, ein sehr absolutes Gehör. Nicht mehr, nicht weniger. Wissen Sie, ob Beethoven ein absolutes Gehör hatte? Sie wissen es nicht? Ich auch nicht. Denn es spielt keine Rolle. Zudem wissen wir beide, dass er später überhaupt nichts mehr hören konnte. Aber er war trotzdem noch Beethoven, nicht wahr? Also machen Sie aus den Fähigkeiten keine große Angelegenheit. Aber meinem Vater imponierte das natürlich sehr. Sehen Sie, er war ein Selfmademan, der sich seine Bildung erst im reifen Alter angeeignet hatte. Er war ein Praktiker alter Schule. Er hatte im Grunde dort angefangen, wo Schmidt seinerzeit steckte: in einem Einmannarbeitszimmer. Natürlich fing er wegen Schmidts Darbietung nicht an, von einem Bein auf das andere zu hopsen. Aber er sagte: ›Herr Schmidt, ich gebe zu, das ist ziemlich imposant …‹

      Sehen Sie, ich sagte eingangs, dass mein Vater kein Gefühlsmensch gewesen sei. Sondern vor allem ein Geschäftsmann. Und im Allgemeinen traf das natürlich auch zu. Aber in seltenen Fällen machte er eine Ausnahme. Oder ein primitiver Gefühlsfunken in ihm machte eine Ausnahme, um genau zu sein. Nun, zum Beispiel schickte er jedes Jahr zu Weihnachten eine gewisse Summe an die Grundschule, die er als Junge besucht hatte. Und manchmal ließ er sich für wohltätige Zwecke erweichen, wenn ihn etwas an seine Kindheit als Waise oder an seine karge Jugend erinnerte. Und Schmidt schien eben solch ein Fall zu sein, der ihm seine eigenen Anfänge СКАЧАТЬ