Gegenwindschiff. Jaan Kross
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Читать онлайн книгу Gegenwindschiff - Jaan Kross страница 11

Название: Gegenwindschiff

Автор: Jaan Kross

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783955102630

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СКАЧАТЬ ich, im Jahr 1925. Ja. Im Frühjahr 1925. Ich erinnere mich, dass die Inflation vorüber war, und Vater die Fabrik retten konnte. Folglich war nicht die gesamte deutsche Industrie in den Taschen von Stinnes und seinesgleichen gelandet. Wir hatten angefangen, ein neues Haupthaus zu errichten und erste Aufträge vom Staat erhalten. Und dann begann mein Vater, sich schlichtweg dafür zu interessieren, was für ein Mann dieser Schmidt war.«

      »Schmidt war zu dieser Zeit also schon ein Begriff

      »Nun, das nicht. Aber er hatte schon vor dem Krieg für das Potsdamer Observatorium einige überraschend ausgereifte Geräte angefertigt.«

      »Und Ihr Vater fuhr im Frühjahr 1925 nach Mittweida, um sich selbst einen Eindruck von Schmidt zu machen?«

      »Exakt.«

      »Womöglich, um ihn für die Firma anzuheuern?«

      »Nein, nein. Nicht doch. Oder vielleicht, hätte er sich als besonders tauglich herausgestellt, wenn Sie verstehen.«

      »Und Sie begleiteten Ihren Vater?«

      »Ja. Ich studierte Physik an der Technischen Hochschule Berlin. Im dritten Semester. Und half meinem Vater in der Firma. Planung. Korrespondenzen. Auf Dienstreisen trat ich als sein Sekretär auf. Günstiger und vertrauenswürdiger als irgendein bezahlter Fremder.«

      »Und weiter?«

      »Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie dieses Mittweida heute unter Honecker ist. Aber damals, zu Eberts Zeiten war es ein bedrückendes provinzielles Nest. Wir bekamen im besten Hotel der Stadt ein Zimmer mit Kakerlaken und machten uns auf die Suche nach Schmidt. Seine Adresse kannten wir. Und je weiter wir gingen, desto überzeugter waren wir davon, dass es in dieser Stadt absolut nichts Interessantes gab.«

      »Nun, immerhin gab es das berühmte Technikum. Wo auch Schmidt studiert hatte.«

      »Wissen Sie, wenn es sich bei Mittweida um ein siebtklassiges Nest handelte, dann war dieses Technikum eine, sagen wir, fünftklassige Lehranstalt. Also nicht viel besser als die Stadt selbst. Wussten Sie das nicht? Nach heutigem Verständnis war es einfach eine Berufsschule. Inhaltlich. Nun, vielleicht ein wenig effektiver, wie alle Lehranstalten zu jener Zeit, aber im Grunde eine Berufsschule. Heute lernen diese sechsjährigen Rotzlöffel in der ersten Klasse die Grundlagen der Mengenlehre. Damals wurde noch das Einmaleins gelehrt. Damals hielt man Adam Riese noch in Ehren. Und die Ergebnisse waren im Verhältnis – ich sage, im Verhältnis, Sie verstehen – besser als heute. Aber was das Technikum Mittweida betrifft – es produzierte trotzdem nur Spezialisten mit mittelmäßigen Fähigkeiten, denen man Ingenieurdiplome gab. Aber deshalb waren sie noch keine Ingenieure mit einer akademischen Bildung. Und Schmidt hatte nicht einmal solch ein Diplom in der Tasche.«

      »Sind Sie sich da sicher?«

      »Absolut. Mein Vater hat die Unterlagen in der Kanzlei des Technikums später persönlich überprüft.«

      »Mit welchem Ziel?«

      »Hm, ganz einfach. Er wollte Schmidt kennenlernen. Und dabei ging er mit deutscher Gründlichkeit vor.«

      »Und weiter?«

      »Nun, ich sagte bereits, dass wir seine Adresse hatten. Vergleichsweise nah am Bahnhof. In der Wilhelmstraße, wenn ich mich nicht irre. Ein dreigeschossiges Mietshaus, dem man die Verwahrlosung aus der Kriegszeit ansah. Das Gartentor verbogen. Im Erdgeschoss ein genossenschaftlicher Kindergarten oder dergleichen. Lärm und Geschrei aus den geöffneten Fenstern. Eine schmale, von Zwiebeldunst erfüllte Treppe in den zweiten Stock. Im dunklen Eingang zur Wohnung kleinbürgerlicher Naphthalingeruch und eine ältere Frau mit toupiertem Haar. An ihrem Blick war zu erkennen, dass der Mieter nichts für Besuch übrighatte. Außerdem war der Mieter nicht zu Hause. Er musste in seiner Werkstatt sein. Aber vielleicht auch nicht. Wie die Frau schwammig formulierte. Wir ließen uns den Weg erklären und suchten die Werkstatt auf. Diese lag in drei- oder vierhundert Metern Entfernung. Nebenbei bemerkt: Dreißig Jahre lang spielte sich Schmidts gesamtes Leben innerhalb dieser dreihundert Meter ab. Das Mietzimmer. Das vegetarische Lokal ›Sanitas‹ in der Nachbarstraße. Weiter zur Werkstatt. Dahinter der Aussichtspunkt. Und unmittelbar neben der Werkstatt das Restaurant ›Lindengarten‹. Also wortwörtlich dreißig Jahre und dreihundert Meter!«

      Ich verkneife mir, ihn zu korrigieren, dass es von Schmidts Bleibe bis zu seiner Beobachtungsstation immerhin sechshundert Meter quer durch Mittweida waren. Aber ich ergänze:

      »Herr Kelter – zumindest vor dem Ersten Weltkrieg besaß er auch ein Auto, was es ihm in jeden Fall erlaubte …«

      »Was erlaubte ihm das?!«, ruft Kelter und schenkt uns großzügig Wermut nach. »Gelegentliche Fahrten mithilfe von Freunden. Er selbst konnte ja nicht fahren. Und das war in der Tat davor. Dann kam der Krieg, und Schmidt wurde interniert. So auch seine Freunde. Als Bürger eines Feindesstaates, nicht wahr? Als er freikam, herrschte Krieg. Das war nicht die Zeit zum Herumfahren. Darauf folgten die Not der Nachkriegszeit und die Inflation. Er verkaufte sein Auto für fünfhundert Milliarden Mark und bekam dafür eine Woche später drei Laib Brot!«

      »Hat er Ihnen das persönlich erzählt?«

      »Nein, nicht er persönlich. Und auch nicht mir. Aber jemand hatte es meinem Vater erzählt. Nun, dann standen wir jedenfalls vor der Tür zu seiner berühmten Kegelbahn. Ich erinnere mich an die kalten Betonwände und die schmutzige Kellertreppe. Vater klopfte mehrmals und rüttelte an der Klinke. Keiner antwortete und die Tür war verschlossen. Ein Nachbar kam die Treppe herunter und äußerte die Vermutung, dass Schmidt bei Bretschneider sein könnte, das heißt im ›Lindengarten‹. Offenbar war das sein Stammlokal. Also gingen Vater und ich dorthin. Es war eine kleine Provinzkneipe. Aber makellos sauber. Die Wirtin wischte mit einem Lappen über den Tresen und musterte uns beiläufig. Nein, Herr Schmidt war an diesem Tag noch nicht bei ihr gewesen. Wenn er sich nicht in der Werkstatt aufhielt, dürfte er bei dem Aussichtspunkt sein. Die Wirtin begleitete uns zur Tür und lotste uns zu einem Garten auf der anderen Straßenseite.

      ›Da, links können Sie seine Röhren und Apparate sehen.‹

      Hinter Himbeersträuchern erschienen zwei Holzbuden und dazwischen ein Teleskop, offenbar mit einer Öffnung von 30 Zentimetern und recht solide. Aber es stand nicht wie üblich auf einem normalen Stativ aus Metallröhren, sondern auf einem seltsamen selbstgefertigten Dreibein aus Holz. Die Hütten waren verschlossen und der Furnierstuhl hinter dem Teleskop leer. Wir gingen zurück zum Restaurant. Keine Spur von Schmidt. Wir fragten die Wirtin, ob er vielleicht in diesem vegetarischen Lokal aufzufinden sei. Die Wirtin sagte, dass er sich nachmittags ab fünf nie dort aufhielte. Seine Mittagspause dürfte zwischen eins und zwei sein – an den Tagen, an denen er zu Mittag aß, fügte die Wirtin hinzu. Mein Vater beschloss, noch einmal im Kegelkeller nachzusehen. Wir standen hinter der Kellertür. Vater klopfte lange und rief: ›Herr Schmidt! Hören Sie mich? Hier ist Professor Kelter aus Berlin. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.‹ Aber niemand antwortete. Ich sagte, dass er womöglich trotzdem da drinnen hockte, denn man hatte uns erzählt, dass dergleichen schon vorgekommen sein soll. Vater war sich jedoch sicher, dass er nicht in der Werkstatt sein konnte: ›Wenn er hier wäre, hätte er beim Namen Kelter aufgemacht.‹

      Wir beschlossen, ins Hotel zu gehen – es lag in der Nähe des Bahnhofs, in derselben Straße, in der sich Schmidts Lebenspendel bewegte. Wir wollten also ins Hotel gehen und ein verspätetes Mittagessen zu uns nehmen. Doch auf halbem Weg erinnerte ich mich an die Kakerlaken und schlug vor, zurück in den ›Lindengarten‹ zu gehen und dort zu speisen. Vielleicht würde Schmidt währenddessen auftauchen. Wir kehrten um und gingen zu Frau Bretschneider – und stellen Sie sich vor – Schmidt saß СКАЧАТЬ