Название: Noch ein Mord, Mylord
Автор: Ralf Kramp
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: KBV-Krimi
isbn: 9783954415748
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»Kein roter Teppich, kein Empfangschef in Livrée, aber dennoch ist es nicht immer ein Abstieg, wenn man den Hintereingang nimmt«, plauderte Merridew fröhlich, während er sich von den zahlreichen Nebeneingängen und Türen eine auswählte, die ihm die richtige zu sein schien. Er öffnete sie, und vor uns führte eine Treppe hinauf.
»Lord Merridew!«, rief eine junge Frau im weißen Kittel erfreut. »Wie schön, dass Sie es heute einrichten konnten!« Sie hatte ihr malzbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der keck auf und ab tanzte, als sie uns auf der Treppe entgegenkam.
Sie musterte mich und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
»Mein Freund Nigel Bates hatte jüngst Geburtstag, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als bei unserer kleinen Unternehmung Mäuschen spielen zu dürfen.«
»Dann gratuliere ich noch nachträglich.« Sie reichte mir ihre Hand. »Mein Name ist Cathy Markham. Selbstverständlich darf er zuschauen. Wir wollen ihm doch seinen sehnlichsten Wunsch nicht abschlagen.« Ihr Lachen war bezaubernd wie überhaupt ihre ganze Erscheinung, und ich konnte nicht umhin, mir ihre schlanke Figur unter dem unförmigen Kittel vorzustellen, als sie vor uns die Treppenstufen hinaufstieg. Ich wurde immer begieriger, herauszufinden, welches denn wohl mein großer Geburtstagswunsch war. Eine Ahnung, worum es sich dabei handeln konnte, hatte ich immer noch nicht.
Wir folgten einigen Gängen, bogen ein paar Mal rechts und links ab, bis wir schließlich in einen Raum eintraten, in dem es chemisch roch. In zahlreichen Regalen stapelten sich Kisten, Körbe, Pakete aus braunem Packpapier, Dosen und Kartons unterschiedlicher Größe. Es gab künstliche Hände, Schachteln voller Glasaugen, Perücken, und auf zwei von mehreren großen Tischen lagen künstliche Körper ohne Köpfe. Wir waren augenscheinlich in der Werkstatt des Wachsfigurenkabinetts gelandet.
»Mr Anselm kommt gleich«, sagte Cathy und bot uns Sitzplätze an. Zwei ziemlich alte, zerschlissene Sofas waren mit Überwürfen aus geblümtem Vorhangstoff halbwegs einladend hergerichtet worden.
»Möchten Sie einen Tee?«
Oh ja, den mochten wir. Und als sie entschwand, um uns diesen Wunsch zu erfüllen, wäre sie in der Tür beinahe mit einem bärtigen Mann im schlabbrigen, gestreiften Pullover zusammengestoßen. Seine Brille hatte er hinaufgeschoben, sodass sie beinahe in seinem lockigen, grau melierten Haar verschwand.
»Frederick Anselm«, stellte er sich uns mit Handschlag vor. »Schön, dass Sie herkommen konnten. Ich verspreche Ihnen, dass es auch gar nicht wehtut.« Er machte den Eindruck eines zerstreuten Professors. Mit ausgestrecktem Arm dirigierte er Merridew auf einen drehbaren Hocker ohne Lehne. »Es ist wichtig, dass Sie aufrecht sitzen. Das kommt der späteren stehenden Position am nächsten. Hat Cathy Ihnen die Skizzen gezeigt?«
Merridew verneinte, und Anselm holte einen flachen Karton aus einem der Regale, dem er mehrere Fotografien und ein paar Zeichnungen entnahm, die er auf dem Tisch vor Merridew ausbreitete. »Nun, was sagen Sie?«
Die Fotos zeigten allesamt meinen Freund in unterschiedlichen Posen. Es waren Pressefotos, die bei verschiedenen Anlässen aufgenommen worden waren. An einige der Ereignisse konnte ich mich sogar erinnern.
»Hm, man könnte denken, Sie hätten mit Absicht die unvorteilhaftesten Bilder ausgewählt«, sagte Merridew mit einem angedeuteten Naserümpfen. Er sah mich an. »Was meinen Sie, Nigel?«
Nun, da ich endlich begriffen hatte, worum es bei unserem Besuch ging, lachte ich ihn frech an. Er tat so, als sei es das größte nur denkbare Vergnügen, anwesend zu sein, wenn eine Wachspuppe dieses aufgeblasenen Aristokraten angefertigt wurde. Ich deutete auf eine Bleistiftzeichnung, die den großen, massigen Körper meines Freundes darstellte. Es waren nur die Gliedmaßen und der grob skizzierte Kopf. Er sah aus wie eine aufgeblähte, unbekleidete Schaufensterpuppe. »Das sind Sie, wie Sie leiben und leben. Vor allen Dingen, wie Sie leiben. Dieser Bauch, das Doppelkinn … Das sind Sie, Merridew.«
Cathy kam mit dem Tee.
»Für mich zwei Stück Zucker«, sagte ich.
Merridew wehrte ab. »Ich muss ein bisschen auf mein Gewicht achten.« Das konnte nur ein soeben spontan gefasster Vorsatz sein. Dergleichen hatte ich noch nie von ihm gehört.
»Kürzlich saß noch Marlon Brando auf diesem Platz«, erklärte Cathy mit einem gewissen schwärmerischen Ton in der Stimme.
Merridew grunzte verächtlich. »Sie sind ja nicht gerade wählerisch.«
Dann machten sich Anselm und seine Assistentin ans Werk und begannen, meinen Freund minutiös zu vermessen. Ich unterdrückte ein Gähnen. Es gab durchaus spannendere Darbietungen.
Maßbänder wurden um die Unterschenkel und Oberarme geschlungen, Zahlen wurden notiert, mit einem großen Feldzirkel wurden die Abstände zwischen Scheitel und Kinn, zwischen den Mundwinkeln und den Pupillen erfasst.
Irgendwann kam eine andere junge Frau im Kittel und rief Cathy zur Tür. Dann tuschelten sie miteinander, und Cathy verließ wortlos den Raum, ohne sich zu uns umzusehen.
»Ich übernehme für einen Moment«, sagte die Frau zu Mr Anselm gewandt und lächelte uns freundlich zu.
»Kommen etwa alle Aspiranten persönlich hierher, um sich vermessen zu lassen?«, fragte ich.
»Nein, eher wenige«, sagte Anselm beiläufig und kritzelte sehr konzentriert etwas auf seinen Block.
Ich tippte auf eine herumliegende Zeitung. »Was ist mit Marilyn Monroe?«
»Oh ja, ist in Vorbereitung. Kommt aber auch nicht persönlich. Wir mussten zu ihr. Wie gesagt, die Wenigsten besuchen uns hier. Umso schöner, dass Lord Merridew uns die außerordentliche Ehre zuteilwerden lässt.«
Während die Assistentin mit einer Schieblehre Merridews Ohren vermaß, begann Anselm Detailskizzen des Kopfes anzufertigen.
Mit meiner Teetasse schlenderte ich an den Regalen entlang und musterte die Gliedmaßen und Köpfe. Einige kamen mir bekannt vor. Mit anderen konnte ich nichts anfangen. Die starren Blicke der Glasaugen waren mir unheimlich. Schließlich gelangte ich zur breiten Fensterfront und blickte in den Hof hinunter.
Dort unten sah ich Cathy Markham, die die Hände tief in den Taschen ihres weißen Kittels vergraben hatte und mit gesenktem Kopf den Hof überquerte.
Zwischen den geparkten Autos trat in diesem Moment ein Mann in einem dunkelblau karierten Jackett und Hut hervor. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, dazu war die Entfernung zu groß. Ich sah eine runde Hornbrille und einen kleinen, zwei Finger breiten Schnurrbart. So steif, wie er dort stand, erinnerte er mich an eine Wachspuppe.
Cathy blieb vor ihm stehen und hielt den Kopf in einer Art Büßerhaltung gesenkt. Offenbar wurden nicht viele Worte gewechselt. Irgendwann streckte der Mann seine rechte Hand aus und fasste nach dem Kinn der jungen Frau. Er zwang sie, ihren Kopf zu heben, um ihm in die Augen zu sehen. Kurz darauf wandte sie sich wieder um und ging mit weit ausholenden Schritten zurück zum Gebäude. Der Mann mit dem Hut verschwand im gleichen Moment auf dieselbe unauffällige Art und Weise, auf die er zuvor erschienen war.
»Ist es wieder dieser Kerl?«, knurrte Anselm der jungen Frau an seiner Seite halblaut zu, während er die Bleistiftspitze über das Papier huschen ließ.
Seine СКАЧАТЬ