Schweigen ist meine Muttersprache. Sulaiman Addonia
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Название: Schweigen ist meine Muttersprache

Автор: Sulaiman Addonia

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783944666976

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СКАЧАТЬ muss, mein Sohn, aber ich bin nicht gebildet. Mitgefühl ist etwas, das ich in meinem Dorf gelernt habe.

      Das Paar in der Hütte daneben kniete am Boden und betete, die Köpfe gesenkt, die Augen geschlossen. Sie hörten nicht einmal, wie ich die Tür öffnete. Der Gedanke, dass andere meine Hütte bezogen hatten, machte mich wütend. Und mit dieser Wut kam ich zur nächsten Hütte. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf. Ein Mädchen, das sich gerade ihr Nachthemd überstreifte, huschte davon, um sich zu bedecken. Ich hielt die Hand vor meine Augen und schloss die Tür. Aber als ich an dem kleinen Fenster vorbeikam, warf ich noch einmal einen Blick hinein. Es war Saba, das Mädchen, das mit ihrem Bruder den Kanister aus dem Wasser geholt hatte. Ich kauerte mich unter ihr Fenster, das auf den menschenleeren Platz blickte. Als der Morgen graute, drehte ich mich um und spähte vorsichtig in die Hütte. In dem Moment hob Saba ihre Knie. Sie strich mit den Händen über ihre Oberschenkel und öffnete ihre Pobacken. Ich fragte mich, ob sie eine Wunde betastete oder ob sie sich Lust verschaffte. Ihr Körper zitterte. Ein Stöhnen kam aus ihrem Mund.

      Ich blieb sitzen, während alle um mich herum zu schreien anfingen. Ich fuhr mit meiner Zeugenaussage fort und sprach sehr laut, um das Geschrei zu übertönen.

      Der Richter rief die Zuschauer zur Ordnung und bat mich weiterzusprechen.

      Ich konnte sie sehen.

      Was sehen, Herr Jamal?

      Ich sah Saba vor mir stehen.

      Stehen? Wo? Wann?

      Im Freiluftklo, an unserem ersten Abend im Lager. Ich konnte sie nicht mit einem Räuspern warnen, weil die Kälte meine Stimmbänder angegriffen hatte. Und so legte sie die Taschenlampe auf den Boden, ohne dass sie mich bemerkte. Ich sah sie von hinten, ihre purpurroten Schenkel. Sie zog ihr Kleid hoch und ging in die Hocke. Ich beobachtete, wie sie Steine aufhob, und als ein Käfer auf ihrem Hintern landete, sprang sie auf und lief davon. Ich rappelte mich hoch und teilte das hohe Gras mit zitternden Händen. Schweiß lief mir übers Gesicht, als strahlte die Stelle, wo Saba gesessen hatte, eine menschliche Wärme aus, nach der ich lange gesucht hatte.

      Tumult. Er lügt. Werft ihn raus.

      Ich möchte Sie an dieser Stelle unterbrechen, wandte sich der Richter an mich.

      Ich aber fuhr fort: Meine Saba gibt es wirklich. Schaut auf die Kinoleinwand, dann seht ihr sie. Ihr denkt, die Saba, die ich kenne, kann nur die Ausgeburt eines kranken Geistes sein. Als würden reale Frauen den Rippen von Männern entspringen und imaginäre Frauen deren fantasierenden Köpfen.

      Genug, sagte der Richter.

      Er wies die Wache an, mich aus dem Zeugenstand wegzuführen. Dann wandte er sich an die Hebamme und sagte: Gehen Sie zu Saba und fordern Sie sie auf, ins Gericht zu kommen. Das ist ihre letzte Chance. Wenn sie nicht kommt, schicken wir den Gerichtsboten, damit er sie mit Gewalt herbringt.

      Das Gericht wartete auf die Rückkehr der Hebamme. Der Richter beriet sich mit den Ältesten. Aus den Reihen der Zuschauer kam Gemurmel. Erneut wurden Gerüchte laut. Ich konzentrierte mich auf mein Kino. Saba lag auf dem Bauch und las in dem Buch, das sie gegen ein Kissen gestützt hatte.

      Ich blickte zu dem Käfig neben meiner Hütte, in dem ich Tauben hielt. Vorsichtig wie eine Ballerina balancierte die Katze über den Zaun aus Stroh. Einsperren kann manchmal das Leben verlängern, dachte ich, während ich erneut das Areal betrachtete, in dem Saba wohnte.

      Saba öffnete der Hebamme das Tor. Sie redeten miteinander. Von diesem Stummfilm, der jetzt vor mir ablief, konnte ich nichts hören, ich sah jedoch, wie sie gestikulierten und mit den Händen fuchtelten. Saba drehte sich einmal um sich selbst. Sie zog ihr Nachthemd aus und legte sich aufs Bett.

      Ich erinnerte mich daran, dass Monate vor Sabas Hochzeit die Hebamme das Mädchen nachts aus der Hütte des Khwaja hatte kommen sehen und das Schlimmste argwöhnte. Und deshalb hatte sie darauf bestanden, Sabas Unschuld zu prüfen. Zwei ihrer Finger in Sabas Vagina bestätigten damals ihre Jungfräulichkeit. An jenem Tag stieß Sabas Mutter Freudentriller aus, als hätte die Hebamme geholfen, ein Baby auf die Welt zu bringen.

      Aber warum überprüft die Hebamme jetzt Sabas Jungfräulichkeit, wo sie doch seit Monaten mit dem Geschäftsmann verheiratet ist?, fragte ich mich.

      Als die Hebamme den Ärmel hochkrempelte und sich mit zwei Fingern Sabas gespreizten Beinen näherte, war ich drauf und dran, durch die Leinwand meines Kinos zu stürmen und zu Saba hinunterzulaufen. Die Gerichtswache hielt mich zurück. Bleiben Sie sitzen. Bleiben Sie sitzen.

      Als man mich zu meinem Stuhl zurückdrängte, sah ich Saba auf ihrem Bett, den Kopf in den Händen. Dann ging das Tor zu meinem Areal auf. Die Hebamme trat ein und stieß Freudentriller aus. Saba hat ihren Bruder nicht missbraucht. Saba ist unschuldig, sagte sie. Saba ist noch Jungfrau.

      Schweigen.

      Wieder einer dieser unerträglichen Momente ohrenbetäubender Stille. Erst als ein beidseitig amputierter ehemaliger Freiheitskämpfer mit seiner Kalaschnikow in die Luft feuerte, entlud sich ein kollektiver Glücksschrei und ließ die Grundfesten meines Quartiers erzittern. Männer reckten triumphierend die Fäuste in die Luft. Frauen stießen Freudentriller aus. Immer mehr Menschen strömten von draußen in mein Kino, um an der improvisierten Feier der Unschuld Sabas und der Unbescholtenheit des Lagers teilzunehmen, das eine Insel der Reinheit inmitten dieses Buschlands geblieben war. Wie sich unsere Gemeinschaft in dieser Wüste ihre geistige Gesundheit bewahrt hat, sagte der Richter, ist ein Beweis für unsere kollektive Wachsamkeit. Wie überwachen einander, weil wir einander lieben wie uns selbst.

      Die Sängerin des Lagers stieg auf den Richtertisch. Dieses Lager hat viele von uns hinweggerafft, es hat uns viel geraubt, aber nicht unsere Menschlichkeit, sang sie. Saba hat uns nicht unserer Menschlichkeit beraubt, wie der Krieg unserer Heimat die Menschlichkeit geraubt hat. Wir haben nichts als unsere Ehre. Danke, shukor Saba. Danke, reine Saba.

      Die Sängerin hielt ihre Krar nah an ihrem Herzen. Ich hatte sie noch nie so singen hören. Ihre Stimme wurde immer wieder übertönt von Freudentrillern und Händeklatschen, von Rufen und Jauchzern des Glücks.

      Die hohen Töne der Krar brachten noch mehr Leute auf die Beine, und während sie im Kreis die Leinwand umrundeten und das Cinema Silenzioso betraten und wieder verließen, dachte ich an etwas, das Saba einmal gesagt hatte: dass unser Tanz unserer Geschichte nachgestaltet ist, die immer und immer wieder von denselben blutigen Ereignissen getrübt wurde.

      Saba war die Frau, die es gewagt hatte, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, und die man jetzt mit einem Gerichtsprozess wieder in Reih und Glied zurückbringen wollte.

      Aber niemand hatte gefragt, wie es sein konnte, dass Saba nach so vielen Monaten der Ehe noch Jungfrau war. Warum hatten sie und ihr Mann nicht die Ehe vollzogen? Vielleicht kannten alle die Antwort, schwiegen aber in der Hoffnung, dass etwas, das nicht ausgesprochen wurde, seine destabilisierende Kraft verlor.

       Die Ankunft

      Tahir? Tahir, ist das hier das Lager?

      Der Fahrer antwortete nicht. Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, das Kinn auf dem Lenkrad. Der Lkw schlingerte, und als Tahir das Steuer herumriss, um einem Schlagloch auszuweichen, schrammten die Äste eines Akazienbaums über die Längsseite des Wagens.

      Der Fahrer beschleunigte. Vögel mit kräftigen, gelben Beinen und weißgefleckten Flügeln, die auf einem Hang umherstreiften, stoben auseinander. СКАЧАТЬ