Schweigen ist meine Muttersprache. Sulaiman Addonia
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Название: Schweigen ist meine Muttersprache

Автор: Sulaiman Addonia

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783944666976

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СКАЧАТЬ vor ihrem Fenster hingen Heuschrecken.

      Als ich anfing, auf meinem Areal ein Kino zu errichten, inspirierte mich die Erinnerung an die fünfundvierzig Bullaugenlampen auf der Fassade des italienischen Cinema Impero in Asmara, wo ich gearbeitet hatte, bevor ich ins Lager flüchtete. Meine Kinoleinwand war ein großes weißes Bettlaken, das ich gebügelt und an zwei in den Boden gestampfte Holzpflöcke gebunden hatte, mit einem großen rechteckigen Ausschnitt in der Mitte. Ich platzierte sie ein Stück unterhalb des Hügelkamms, auf dem sich mein Quartier befand. Viele dachten, ich wollte auf diese Weise die Akteure auf der offenen Leinwand im vollen Licht des Mondes und der Sterne erscheinen lassen, mit dem abgegrenzten Flüchtlingscamp im Hintergrund. Wie ein Wandgemälde, ein Kunstgriff aus vergangenen Zeiten.

      Der wahre Grund war ein anderer. Wenn man bei richtigem Licht von hier oben durch die Leinwand schaute, konnte man in Sabas Quartier blicken. Es war auf drei Seiten umzäunt, und der Hügel mit dem Kino diente als vierte Begrenzung. So konnte ich sie die ganze Zeit beobachten, und ihre Welt wurde ein Teil von meiner.

      Das Problem war, dass ich wie viele andere auch mir vormachte, das Betttuch wäre tatsächlich eine Leinwand, und alles, was man darauf sah, ein richtiger Film, Szene für Szene aufgenommen an einem weit entfernten Ort. Mit jedem Tag, den ich vor meiner Kinoleinwand verbrachte, nistete sich diese Illusion stärker in meinem Leben ein. Und die beiden Welten – die reale, in der Saba lebte, und die virtuelle des Films, den ich sah, eine Welt, in der nichts ist, wie es scheint – fügten sich harmonisch ineinander.

      Ich sah sie kochen, lesen, bügeln, die Hausarbeit verrichten, Erwachsenen das Lesen und Schreiben beibringen, aber ich schaute ihr auch bei dem zu, was Menschen tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Und während ich jetzt erzähle, läuft in meinem Kopf eine zufällige Sequenz von Bildern ab, in denen sie auftaucht. Da war dieser Abend, als sie hinter der Latrine masturbierte, während ihr Bruder für sie und ihren Mann einen Doro Wot kochte, einen Hühnereintopf.

      Doch diese Szene wird sofort von einer anderen überblendet: wie Saba vor dem großen, muldenförmig vertieften Stein am Boden auf ihren Fersen saß und sich ihr Po hob, während sie Getreidekörner zerstieß. Wie der Saum ihres schwarzen Kleides flatterte und ihre Schultern vor und zurück glitten, als sie das Getreide mit kleineren Steinen zermahlte. Ihre Oberschenkel mit der verbrannten Haut leuchteten wie Kerzen – alte Wunden, eingehüllt in eine Wolke aus weißem Mehl, die vor ihr aufstieg und in die ihr Kopf eintauchte, um mit weißen Haaren wieder aufzutauchen. Sabas mehlbestäubtes Gesicht existiert in meiner Vorstellung neben ihrem geschminkten Gesicht am Abend ihrer Hochzeit, als sie Seite an Seite mit ihrem Bräutigam saß, einem Mann mittleren Alters, und das Kleid einer Toten trug. In unserem Lager wird alles wiederverwendet, das Glück ebenso wie die Verzweiflung.

      Und immer wieder kehren meine Gedanken zu ihrer Hochzeitsnacht zurück. Mich schaudert heute noch, wenn ich mich daran erinnere, wie sich ihr Bruder auf Zehenspitzen zu ihrem Schlafzimmer schlich, lange nachdem die Musik geendet hatte und die Gäste gegangen waren, damit Braut und Bräutigam die Ehe vollziehen konnten. Wie er sich verrenkte, als er sein Ohr an die Wand presste. Und als ich so über Saba nachdachte, über ihr Vergehen und den bevorstehenden Gerichtsprozess, trat sie aus ihrer Hütte und erschien in ihrem schwarzen Kleid, ihrer zweiten Haut, auf der Leinwand. Ich setzte mich wieder auf den Hocker, um meinen Film und damit Saba weiter anzuschauen. Mit einem Buch in der Hand kauerte sie auf ihrem Bett unter dem Limettenbaum. Die Öllampe neben ihrem Bett flackerte. Saba schlief immer unter freiem Himmel, und ich beobachtete sie jeden Abend, wenn sich das Licht von Mond und Sternen über ihre straffe Haut ergoss.

      Bestimmt las sie wieder in ihrem Buch, Tschechows Dame mit dem Hündchen, das der englische Hilfskoordinator neben seiner britischen Zeitung in unserem Lager zurückgelassen und das sie schon mehrmals gelesen hatte. Als würde, wenn sie die Erzählung immer wieder las, auch ihre Liebesgeschichte ein glückliches Ende nehmen. Aber wen liebte sie?

      Die Leinwand meines Kinos erzitterte. Saba schaltete ihr Radio ein. Musik durchbrach die Stille des Abends. Und Augenblicke später, als ich einen Topf Milch auf das Feuer stellte, hörte ich Schritte. Ich hob den Kopf und sah sie den Hügel herauf auf mich zukommen, wie ein Geist glitt sie zwischen den Büschen und Kakteen hindurch. Ich beugte mich vor und stocherte in der Glut.

      In ihrem schwarzen Kleid und den Riemchensandalen stand sie vor mir neben dem bunten Stuhl, eine Tasche in der Hand. Sie war wie eine Figur aus einem italienischen Film. Eine Ausgeburt meiner Fantasie? Aber ich konnte sie ja sehen. Konnte den Duft ihres Körpers riechen.

      Sie entfernte sich von der Leinwand und hängte ihr schwarzes Kleid über den niedrigen Ast eines Hibiskusbaums am Rand des Hügels. Nackt kehrte sie auf die Leinwand zurück und setzte sich auf den bunten Plastikstuhl, auf dem die Akteure Platz nahmen, um Geschichten zu erzählen, um das Leben in unserer Heimat zu beschwören, wie es vor dem Krieg, vor unserem Exil gewesen war. Ich forderte die Akteure im Kino oft auf, sich ganz frei zu fühlen und zu sagen und zu tun, was sie wollten. Aber die Menschen standen im Bann ihres Lebens im Exil. Ich wusste, dass ich Saba nicht daran zu erinnern brauchte.

      Ameisen krabbelten über ihre Zehen, die Hagos am Abend zuvor pedikürt hatte.

      Saba nahm eine Schere aus ihrer Tasche und fing an, sich die Haare abzuschneiden. Der silbrig weiße Schein des Himmels erleuchtete die Leinwand. Während lange schwarze Strähnen zu Boden fielen, sah sie mich durch ihre dichten Wimpern unverwandt an. Das Weiß ihrer Augen war verstörend klar.

      Wind kam auf. Funken stoben in alle Richtungen. Die Milch im Topf kochte hoch, wölbte sich zu einer Kuppel aus Schaum und erstickte die Flamme.

      Saba streckte den Arm durch den Leinwandausschnitt und nahm die Zigarette, die ich vor ihrer Ankunft am offenen Feuer angezündet hatte. Ich hätte gern ihre Hand gehalten, nur für einen Augenblick, aber damit hätte ich alles infrage gestellt, an das ich bisher geglaubt hatte. Das hier ist ein Kino in einem Flüchtlingslager, sagte ich mir. Und Saba ist eine Schauspielerin in einem Film, der in einem fremden Land gedreht wurde.

      Sie blies Zigarettenrauch in die Luft. Ihr Gesicht verschwand in der Wolke. Saba war schon öfter verschwunden und wieder aufgetaucht. Und für einen kurzen Moment war auf der Leinwand niemand zu sehen. Nicht einmal das Lager. Saba war eine Lüge und dieses Lager eine Illusion. Doch aus dem Lager hinter ihr stiegen übelriechende Dünste auf und hielten mich in der Wirklichkeit fest. Der Geruch des feuchten gelben Strohs der Dächer, der mit Dung gefüllten Lehmmauern, des offenen Feldes, das wir alle als Toilette benutzten und wo ich Saba so viele Male begegnet war.

      Ein Adler landete auf dem Hibiskusbaum meines Kinos und öffnete den Schnabel, als wäre Sabas schwarzes Kleid mit blutigen Erinnerungen durchzogen und ihr Körper der Faden, der diesen Stoff zusammenhielt.

      Der Mond verschwand hinter den Wolken. In diesem kurzen Moment der Dunkelheit war Saba nicht mehr zu sehen, ihr Gesicht erschien erst wieder, als sie erneut einen Zug aus ihrer Zigarette nahm. Doch die Dunkelheit kehrte immer wieder an diesen Ort zurück: Den Lampen ging das Öl aus, Batterien leerten sich. Wir verbrachten unser halbes Leben in Dunkelheit.

      Sprich doch, drängte ich Saba. Bitte sag etwas.

      Und das tat sie, nachdem der Adler weggeflogen war. Ich war immer überzeugt, begann sie. Ich war immer überzeugt, dass unsere Traditionen in uns verankert bleiben, auch wenn wir aus unserer Heimat fliehen und all unseren Besitz zurücklassen. Sie begleiten uns, wohin wir auch gehen.

      Sie hielt inne und blickte in den Himmel.

      Was wollte sie mir damit sagen? Worauf versuchte sie mich vorzubereiten? Hatte es etwas mit dem Prozess zu tun?

      Ein Windstoß erweckte die zischende Kohle wieder zum Leben. Funken streiften mein Gesicht. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich war es, der das Publikum ermunterte, СКАЧАТЬ