Название: Schweigen ist meine Muttersprache
Автор: Sulaiman Addonia
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783944666976
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Schweigen.
Der Richter fuhr mit der Verhandlung fort. Er rief nach seinem Gerichtsschreiber, den er eigens für den Prozess ernannt hatte. Ein schmächtiger junger Mann trat vor. Er war im Lager dafür bekannt, dass sein Herz so tief war wie ein Brunnen, in dem er die Geheimnisse der Menschen bewahrte. Und doch war er leicht wie eine Feder, als er nach vorn trat und auf dem Stuhl rechts vom Richter Platz nahm.
Nachdem der Richter Sabas Vor- und Zunamen hatte aufnehmen lassen, fragte er die Hebamme, ob sie wisse, wie alt Saba sei. Er beharrte auf einem korrekten Protokoll, wie er es vom Gericht in Asmara kannte. Zwar war die Hebamme bei Sabas Geburt dabei gewesen, aber sie erinnerte sich nicht. Doch sie lieferte ein paar Anhaltspunkte in Form von politischen Ereignissen aus der Zeit von Sabas Geburt.
Der Richter wies seinen Schreiber an, ihr Alter mit fast zwanzig anzugeben.
Als der Schreiber eine hölzerne Tafel aus der Tasche zog, wie man sie in Kirchen und Moscheen benutzte, um Verse aus dem heiligen Buch darauf zu schreiben, bot ich dem Gericht mein Notizheft an.
Der Schreiber musste mein halb fertiges Drehbuch zu Saba überblättern, um ihre Personalien festzuhalten. Es war die Vorlage für einen Film, den ich machen wollte, sobald wir in unser befreites Land zurückgekehrt waren. In meinem Kopf und in meinem Notizheft lebten die reale und die imaginierte Saba Seite an Seite.
Das Rätsel von Sabas Nationalität zu lösen, dauerte länger. Ihre Mutter ist Äthiopierin, sagte die Hebamme. Aber soweit ich mich erinnere, war ihr Vater Eritreer.
Ich glaube deinen Worten, sagte der Richter. Er wollte offenbar zügig vorankommen.
Nein, sagte ein Mann. Seine Augen traten aus den Höhlen, als er hinzufügte: Wenn ihr Vater Eritreer ist, ist sie auch Eritreerin. Die Identität eines Kindes richtet sich nach dem Vater.
Der Sohn einer getöteten Kämpferin sprang auf. Meine Mutter hat nicht bis zu ihrem Tod gekämpft, sagte er, damit einer wie du behaupten kann, ihre Identität sei weniger wichtig.
Bei diesem Wortwechsel fing ein junger Mann ganz hinten an, sarkastisch zu lachen. Er trat vor und schwenkte seinen Ausweis, den er von der UN erhalten hatte. Seht her, sagte er. Für mich, für euch bin ich Eritreer, aber in diesem Pass hier steht, dass ich kein Land habe. Warum? Na? Na, warum?
Mir war klar, dass er den entscheidenden Punkt seiner Argumentation verfehlte. Deshalb riss ich ihm den Ausweis aus der Hand, um den Versammelten zu erklären, was ich in seinem ruhigen Gesicht zu lesen glaubte. Dieser Mann, sagte ich und wandte mich ans Publikum, möchte uns daran erinnern, dass für die Außenwelt Sabas Nationalität strittig ist, weil sich unser Land immer noch in einem Unabhängigkeitskrieg befindet.
Warum?, wiederholte der Mann.
Einige Zuhörer lachten leise.
Ich kehrte auf meinen Platz zurück und blickte auf die Kinoleinwand. Sabas Hütte war deutlich zu erkennen. Saba saß auf ihrem Bett, ein Buch in der Hand. Sie trug jetzt ihr Nachthemd. Ich musste zweimal hinschauen. Ich bin mir der Tücke meines Kinos bewusst: Manchmal, wenn ich Erinnerungen wachrief, wurden sie auf meiner Leinwand ganz real, ganz lebendig. Und ich hatte viele Erinnerungen an Saba.
Wenig später geriet der Prozessablauf erneut ins Stocken, diesmal mangels Belegen für Sabas Religionszugehörigkeit. Nicht überzeugt von Aussagen, ihr Vater könnte ein Muslim sein und ihre Mutter eine Christin, ließ der Richter die Frage offen. Religion unbekannt, sagte er zu dem Schreiber.
Ein Mann stand auf und fragte: Wie kann es sein, dass Saba all diese Jahre hier unter uns gelebt hat und wir so wenig über sie wissen?
Da es im Lager keine Polizeibehörde gab, musste der Richter auch die Ermittlungen führen. Er rief die Hauptzeugin auf.
Hinter ihm, weit entfernt, war Saba immer noch in ihr Buch vertieft, und ihr Quartier erstrahlte im gelben Licht der Öllampen, die sie die Mauer entlang aufgereiht hatte.
Die Hebamme nahm im Zeugenstand Platz. Sie schwor den Eid und murmelte Gebete. Ihre kummervolle Miene verschwand, als sie mit ihrer Schilderung begann:
Dass zwischen Saba, sie sei verflucht, und Hagos etwas vorging, argwöhnte ich, seitdem ich an jenem Nachmittag, ein paar Monate nach unserer Ankunft im Lager, ihre Hütte betrat und sie nebeneinander auf einer Decke liegen sah. Gott der Herr möge mir vergeben, dass ich das vor Ihnen wiederhole, Euer Ehren, aber ich habe festgestellt, dass sie sich seit unserer Ankunft im Lager eine Decke geteilt haben. Ich musste mich zwingen, diesem schamlosen Mädchen nicht ins Gesicht zu schlagen. Aber Prügel hätten auch nichts geändert. Hätte ihre Mutter doch nur auf mich gehört und sie zu Hause zurückgelassen, statt so viel Geld zu bezahlen, um sie in dieses Lager mitzunehmen. Du wirst mit ihr nie deine Ruhe haben, hatte ich zu ihr gesagt. Ich bitte Sie darum, Herr Richter, ihr eine schwere Strafe aufzuerlegen.
Fahren Sie mit Ihrer Zeugenaussage fort und überlassen Sie das Urteil uns, sagte der Richter.
Die Hebamme nickte. Doch dann wandte sie sich uns zu, stand auf und schwenkte drohend den Zeigefinger in Richtung der Väter im Publikum. Seid besonders wachsam und streng gegenüber euren Töchtern. Wir sind hier zwar in einem Lager, aber das Land eines Mädchens ist ihr Vater, und wenn sie einen Vater an ihrer Seite hat, wird sie aus ihrer Kultur und ihren Traditionen niemals verbannt werden.
Würden Sie sich bitte setzen und fortfahren, sagte der Richter und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Wie Sie wünschen, Herr Richter, sagte die Hebamme. Nun also, ich gab der Mutter meine eigene Decke, damit ihr Sohn von diesem Mädchen getrennt schlafen konnte. Jetzt weiß ich auch, warum Saba, als der Geschäftsmann ihr einen Heiratsantrag machte, sofort einwilligte, ohne zu protestieren, wie ich es erwartet hatte. Ich werde niemals heiraten, bevor ich mit der Schule fertig bin, hatte sie immer wieder zu ihrer Mutter gesagt. Aber als ich ihr den Heiratsantrag überbrachte, vergoss sie keine Träne. Das Einzige, worum sie bat, ja, worauf sie bestand, war, dass ihr Bruder mit ihr käme. Es war ja nicht so, dass sie in ein anderes Dorf zog, aber der gutherzige und langmütige Geschäftsmann war einverstanden.
Doch ich war immer noch verblendet. Wie kann ich oder sonst jemand hier akzeptieren, dass so etwas in unserer Gemeinschaft passiert? Ich hoffte weiter, dass alles nur ein Missverständnis war. Mein Verdacht erhärtete sich jedoch, als gleich nach der Hochzeit Saba jeden daran hinderte, ihr Areal zu betreten, sogar ihre eigene Mutter.
All das nahm ich wahr und es verwirrte mich, aber ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Nur mit dem Herrn im Himmel. Und dann, vor ein paar Monaten, erhielt ich die zweifelsfreie Bestätigung, als Hagos mitten in der Nacht von einer Schlange gebissen wurde und der Geschäftsmann zu mir kam und um Hilfe bat. Es musste also erst etwas Lebensbedrohliches passieren, damit sie einem Außenstehenden das Tor öffneten, und ich weise nie jemanden ab, der in Not ist. Ich ging also hin und fand Hagos’ Hütte voll mit Frauenkleidern. In seinem Bett lagen Höschen und BHs. Demnach hatte Saba die ganze Zeit in seiner Hütte gewohnt und muss das Bett mit ihm geteilt haben.
Die Hebamme war am Ende ihrer Schilderung angelangt. Sie blickte auf und murmelte Gebete.
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