Название: Schweigen ist meine Muttersprache
Автор: Sulaiman Addonia
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783944666976
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Die Träume dieser Menschen, ihre Ängste und Untaten wurden meine Träume, meine Ängste und meine Untaten. Und ich fragte mich, ob ich am Ende ein Träumer werden würde, ein Wanderer zwischen Ländern und Liebschaften, jemand, der seinem Opfer durch dunkle Gassen nachstellt, oder ein Mann der Worte. Oder ob ich mich durch göttliche Macht in eine Frau wie Saba verwandeln würde, deren Rundungen ich mir im Schimmer des Mondlichts als meine eigenen vorgestellt hatte.
Die Zeit meines Heranwachsens war voller Möglichkeiten, dies oder das zu werden, und ich war Wünschen ausgeliefert, die sich mit jeder Nacht in einer neuen Hütte änderten, wenn ich den Herzen derjenigen lauschte, die ihren Kopf neben meinen betteten, und deren Atem erschreckende, aber auch sinnliche und mitleidvolle Gedanken in mir wachriefen. Ich bin nichts als die Summe der Gedanken all dieser Gefährten. Denn ohne dass sie etwas ahnten, wurde ich vieles zugleich: ein Abbild ihrer Großzügigkeit, eine Fallstudie ihrer edlen Überzeugungen und der Träger ihrer unerträglichsten Geheimnisse.
Jetzt bin ich hier, dachte ich, und warte auf Sabas Prozess, während ich inmitten der Guten und der Bösen sitze, inmitten derer, die ihre Verbrechen und Schandtaten in aller Stille begingen.
Hier gab es keine Polizeistation. Es gab nur uns und unser Gewissen. Das ungeschriebene Gesetz des Schweigens, der Familienehre, der Solidarität der Entrechteten und die Verwandtschaftsbeziehungen durch innerfamiliäre Heirat sorgten dafür, dass das Lager von diesem Pfad der Reinheit nicht abwich wie ein Strom, der zwischen Felsen und Bergen dahinfließt und dessen Sedimente sich auf seinem Grund ablagern. Sogar Gott wurde von uns betrogen, sagte einmal ein Mädchen zu Saba. Sie war nach einer Vergewaltigung schwanger geworden und starb mit nicht einmal fünfzehn Jahren bei der Geburt des Kindes.
Aber weil wir Gott nach unserem Bild erschaffen haben, betrügen wir nur uns selbst, gab Saba zurück.
Als ich mich umsah, verstand ich, warum der Richter mein Kino und nicht seine eigene Hütte, die sonst als Gerichtssaal diente, für den Prozess ausgewählt hatte. Der Ältestenrat hatte das ganze Lager hier versammelt, damit dessen Bewohner Zeugen von Sabas Verurteilung wurden.
In dem großen Areal, das ich bewohnte, drängten sich die Menschen. Die Stühle unter dem Baum füllten sich. Halbwüchsige Jungs hockten wie Adler auf den Mauern und beäugten die Mädchen, die einander auf dem Schoß saßen. Auf diese Weise lebten wir schon eine lange Zeit, dicht nebeneinander, den prüfenden Blicken der anderen ausgesetzt. Wir haben einander überwacht, verurteilt und eingesperrt. Wie hatte Saba unserem strengen Blick entkommen können?
Säuglinge krochen unter den Stühlen herum, den Mund mit Muttermilch verschmiert. Die einzige Katze im Lager spitzte die Ohren. In der Hitze stiegen von den dicht gedrängten Körpern Gerüche auf. Der Gerichtsbote schritt mit einem Räuchergefäß die Sitzreihen auf und ab. Ich neigte mich in Richtung des Weihraucharomas.
Und als er um Ruhe bat und verkündete, die Ältesten seien im Anmarsch, ging ich durch die Reihen und umarmte meine entwurzelten Schicksalsgenossen, um mich in ihren Armen meiner Existenz zu vergewissern.
Ich umarmte den Vergewaltiger und hob das Kinn seines Nachbarn, eines Jungen, der immer noch mit gesenktem Kopf herumlief. Ich dankte dem Kinderschänder und seiner Frau dafür, dass sie mir vor all den Monaten etwas zu essen gegeben hatten, und tätschelte seinen unehelichen Sohn und seine Tochter, mit der ich ein Bett geteilt hatte. Ich überlegte, ob die Zeit reif war, seiner Tochter zu sagen, dass ihr Vater, nachdem er mit ihr fertig war, zu mir gekommen war. Sie zu fragen, ob sie meine erstickten Schreie gehört hatte wie ich die ihren. Nein. Nichts dergleichen. Wir gaben uns die Hand. Dann wandte ich mich der nächsten totgeschwiegenen Schuld zu. Ich bat die Ehebrecherin eindringlich, nicht zu vergessen, nach dem Prozess das Milchpulver mitzunehmen, das ich bekommen hatte, und es ihren unterernährten Kindern zu geben. Sie hatte ihren Mann vergiftet und seinen Tod Gott zugeschrieben. Aber im Schlaf hatte sie ein Bekenntnis abgelegt und sich zugleich aufgemuntert, ich hatte es mit eigenen Ohren gehört. Ich habe einen Mistkerl getötet, hatte sie gesagt, aber wie viele von ihnen hat Gott selbst von uns genommen?
Alle aufstehen!, brüllte der Gerichtsbote.
Das Geplapper verstummte, jetzt hörte man scharrende Geräusche, als sich die Anwesenden von ihren Stühlen erhoben. Der Richter trat ein, begleitet von seinen drei Assistenten.
Mein Blick wandte sich von ihm ab und der Leinwand zu. Cinema Silenzioso. Sabas Name hallte durch mein Quartier. Ich fragte mich, ob die Leute jenseits der Leinwand, vor die der Gerichtsbote einen Tisch und vier Stühle gestellt hatte, in Sabas Unterkunft blicken konnten. Saba saß immer noch auf ihrem Bett unter dem Limettenbaum, mit dem Rücken zum Gericht. Öllampen flackerten. Sie nahm an ihrem eigenen Gerichtsprozess nicht teil.
Der Richter erhob sich und stand lange schweigend da. Er nahm die Versammlung scharf in den Blick. Einige schnappten nach Luft. Dann senkte er den Kopf und brach zusammen. Er schluchzte so hemmungslos, dass er anfing zu zittern, und sank auf seinen Stuhl.
Die Männer des Ältestenrats schlossen die Augen. Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, das ihm der Gerichtsbote brachte, erhob sich der Richter erneut. Er holte tief Luft und gewann seine gebieterische Stimme zurück. Meine Damen und Herren, begann er. Es schmerzt mich, sagen zu müssen, dass wir Saba eines grotesken sexuellen Akts gegen einen unglückseligen Mann angeklagt haben. Gegen ihren eigenen behinderten Bruder.
Schweigen. Dann erschrockenes Japsen, aus dem ein schrilles Kreischen wurde, als eine Frau in einer weißen zuria vortrat, die Arme in die Luft warf und weinte. Und fast als dirigierte sie ein Orchester, erzwang sie einen Ausbruch kollektiver Trauer. Ein kleiner Junge stimmte in den lärmenden Chor ein und klagte: Warum wir? Warum können wir nicht in Frieden leben?
Ich sah mich um. Einige blickten zu Boden, andere schüttelten den Kopf, hin und her gerissen zwischen Bestürzung und Ungläubigkeit. Ich entdeckte Zweifel in den Augen derjenigen, die blinzelten, während sie murmelnd ihrer Entrüstung Ausdruck verliehen. Kummer ist wunderbar, wenn er nur gespielt ist. Das spürte ich umso mehr, als eine beleibte Frau sich forschend umsah, um sich zu vergewissern, dass alle sie beobachteten, bevor sie in Ohnmacht fiel und eine andere Frau und zwei Männer mit sich zu Boden riss. Einer war mein Vergewaltiger.
Mein Inneres glühte wie ein Kohlebügeleisen. Vögel, die in meinem Kino auf den Büschen saßen, flogen davon, sammelten sich über Sabas strohgedecktem Dach und verschwanden zu den zerklüfteten Hügeln.
Eine Windböe ließ Sabas schwarzes Kleid auf dem Hibiskusbaum meiner Leinwand flattern. Ihr Duft verbreitete sich überall. Der Wind, so stellte ich mir vor, trug auch ihre Traurigkeit überallhin.
Saba hat Hagos missbraucht. Eine Frau weinte und schlug sich auf die Brust. Saba hat den armen Hagos missbraucht. Unsere Ärztin hier im Lager, die Hebamme, ging mit einer aufgeschnittenen Zwiebel durch die Reihen und hielt sie den Ohnmächtigen vor die Nase. Der Richter war wieder aufgestanden. Ruhe. Ruhe.
Er sammelte sich. Seine Hände zitterten nicht mehr. Er straffte den Rücken. Hinter ihm im Cinema Silenzioso summten Moskitos und umschwirrten Sabas Kleid. Blutdurst wallte auf, als ein Mann aufstand und Sabas Kopf forderte, ohne dass ihr der Prozess gemacht wurde.
Dieser Prozess muss geführt СКАЧАТЬ