Название: Dyslexie, Dyskalkulie
Автор: Monika Müller Freunek
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783039059546
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Luca ist seit acht Jahren in einem Improvisationstheater engagiert. Ausgerechnet Theater, bei dem es so sehr auf die Sprache ankommt und die Schnelligkeit. Doch da fühlt sich Luca wohl, und er widmet sich dem Theater mit viel Herzblut. Er fühle sich nicht mehr gehindert, habe gelernt, mit Sprache umzugehen, erklärt er, das Theater bedeute ihm viel. Offensichtlich braucht er diese Herausforderung, einem Hobby nachzugehen, das zur Passion geworden ist und das mit Sprache zu tun hat. Nach dem Gespräch schlendert Luca, Kappe auf den dunklen Haaren, sichtlich erleichtert seinem Feierabend entgegen, wo ihn niemand fragt, was es mit seiner Legasthenie auf sich hat, wo er seine Kreativität und die körperliche Kraft ausleben kann: im Schwimmbad und auf der Bühne.
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Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit
Prof. Dr. Judith Hollenweger, Pädagogische Hochschule Zürich
1.1 Sicherung von Bildungschancen
Bereits seit mehr als zwanzig Jahren ist das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendliche in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert. Die in der Schweiz noch nicht ratifizierte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert, dass die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen gewährleisten mit dem Ziel, «Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen»1 (Artikel 24, Abschnitt 1). Die Bildungssysteme mit ihren Gelegenheitsstrukturen und Regelsystemen eröffnen den Schülerinnen und Schülern Bildungschancen – können diese aber auch verschliessen.2
Bildungssysteme haben aber auch dafür zu sorgen, dass die nächste Generation auf die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Subsystemen vorbereitet ist. Hier von besonderer Bedeutung ist die Aufgabe der Qualifikation respektive die Entwicklung von berufsrelevanten Fähigkeiten (Subsystem Wirtschaft). Bildungssysteme qualifizieren und befähigen junge Erwachsene immer auch abgestimmt auf die Anforderungsprofile des Beschäftigungssystems. Dieses verlangt heute immer mehr nach gut qualifizierten Fachleuten, die sich in unserer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft leicht orientieren können.3 Ins Zentrum rücken Schlüsselkompetenzen,4 welche weniger auf eine spezifische berufliche Tätigkeit vorbereiten, sondern sichern sollen, dass die Schulabgängerinnen und -abgänger fähig sind, sich in einer flexibilisierten Berufswelt zurechtzufinden und ihr Leben lang weiterzulernen. Gemäss dem DeSeCo-Projekt der OECD können solche Schlüsselkompetenzen in drei Kategorien gefasst werden: (1) Fähigkeit, verschiedene Medien, Hilfsmittel und Werkzeuge sowie die Sprache wirksam einzusetzen, (2) Fähigkeit, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen in einer vernetzten Welt umzugehen und in sozial heterogenen Gruppen zu interagieren, sowie (3) Fähigkeit, Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung zu übernehmen und eigenes Leben in grösseren Kontext zu situieren und eigenständig zu handeln.5
Bildungssysteme dienen jedoch auch der Reproduktion respektive der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Sozialstruktur, die sich auch in den verschiedenen beruflichen Positionen mit unterschiedlichem Anforderungsniveau widerspiegelt. Anders ausgedrückt: Bildungssysteme verteilen die Bildungs- und Berufschancen ungleich an die nächste Generation. Die Schule begrenzt diese mittels Prüfungen und Zulassungsbedingungen und nimmt so aktiv Einfluss auf die schulischen und beruflichen Laufbahnen. Fend (2008, S. 50 ff.) spricht hier von der Allokationsfunktion des Bildungswesens und fordert eine offene und leistungsgerechte Praxis. Zugang zu höheren Ausbildungsgängen soll somit aufgrund der Leistungen respektive der Leistungsfähigkeit erfolgen und nicht zum Beispiel aufgrund der sozialen Herkunft. Dass diese Forderung noch nicht in die Praxis umgesetzt ist, zeigen etwa Studien aus Deutschland. Dort müssen Kinder aus bildungsfernen Familien vergleichsweise höhere Kompetenzen und eine höhere Motivation aufweisen als Kinder aus bildungsnahen Familien, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.6 Heutige Bildungssysteme müssen zudem für Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit sorgen, sodass frühe Bildungsentscheide revidiert werden können. Auf Sekundarstufe II (Kopenhagen-Prozess) und Tertiärstufe (Bologna-Prozess) werden in Europa gegenwärtig grosse Anstrengungen unternommen, um die Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit von Abschlüssen und/oder Qualifikationen zu verbessern.7 Ebenfalls bemühen sich viele europäische Länder darum, informell erworbene Kompetenzen bei der weiteren Qualifikation zu erfassen und anzuerkennen. Das deutsche Jugendinstitut hat hierzu zusammen mit weiteren Partnern einen Interviewleitfaden entwickelt.8 Die Flexibilisierung der Berufsbildung birgt gemäss Biermann (2005) neben Chancen auch einige Risiken.
Wie Fend (2008) ausführt, hat das Bildungswesen sowohl eine gesellschaftlich-kulturelle Reproduktions- und Innovationsaufgabe als auch die Funktion, individuelle Handlungsfähigkeit herzustellen, «die sich in Qualifikationserwerb, Lebensplanung, sozialer Orientierung und Identitätsbildung entfaltet» (ebd., S. 23). Für die Sicherung der Bildungschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Dyslexie oder Dyskalkulie in allgemeinbildenden oder berufsbildenden Ausbildungsgängen auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe stellen sich primär Fragen zu adäquaten Qualifizierungsmöglichkeiten und zu gerechten Zulassungsmechanismen. Welche Gelegenheitsstrukturen (Angebote, Unterstützungsmöglichkeiten) sind erforderlich, damit notwendige Kompetenzen und erforderliche Fähigkeiten erworben werden können? Welche Regelsysteme (Zulassungen, Berechtigungen) braucht es, um den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen zu erhalten und diese erfolgreich abzuschliessen? Zur Sicherung der Bildungschancen der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sowohl besondere Überlegungen zur Förderung und Unterstützung als auch zur Vermeidung von Diskriminierungen und Benachteiligungen notwendig. Im Folgenden soll kurz geschildert werden, welche Entwicklungen gegenwärtig in diesen Bereichen im europäischen Raum und in der Schweiz zu beobachten sind.
1.2 Unterstützungssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Die schulische Sonderpädagogik ist fast ausschliesslich auf die Volksschule ausgerichtet und hat sich bisher kaum mit der postobligatorischen Bildung auseinandergesetzt. Bereits auf Sekundarstufe I werden seitens des Bildungssystems nur noch wenige Stütz- und Fördermassnahmen angeboten. So erhielten etwa im Kanton Zürich im Schuljahr 2008/2009 auf der Unterstufe von 100 Lernenden 1,4 Kinder eine Legasthenie- und ein Kind eine Dyskalkulietherapie, während im gleichen Schuljahr nur 0,3 respektive 0,1 Lernende der Sekundarstufe I diese Massnahmen besuchten.9 Die Sekundarstufe I ist in der Schweiz nach Leistungsniveaus gegliedert, und generell wird davon ausgegangen, dass man damit den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann. Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen werden auch heute noch mehrheitlich in Sonderschulen unterrichtet, trotz internationalem Druck zur Umsetzung integrativer respektive inklusiver Schulangebote. Wegen dieser starken Ausrichtung auf die Volksschulzeit besteht heute in den Mittelschulen des Kantons Zürich nach der Vollendung der obligatorischen Schulzeit kein vergleichbarer Rechtsanspruch mehr auf staatliche Beiträge für Stütz- und Fördermassnahmen. Auch die neue interkantonale Vereinbarung im Bereich der Sonderpädagogik orientiert СКАЧАТЬ