Название: Dyslexie, Dyskalkulie
Автор: Monika Müller Freunek
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783039059546
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1.4 Sind Dyslexie und Dyskalkulie Behinderungen?
Wenn in Bildungssystemen das Wort «Behinderung» verwendet wird, denkt man meist an Kinder mit Downsyndrom, Körperbehinderungen oder an blinde und gehörlose Kinder. Auch sogenannte Lernbehinderte oder Verhaltensauffällige werden zumindest im Kontext Schule als behindert erachtet. Aber sind Dyslexie und Dyskalkulie oder Depression und Diabetes auch Behinderungen? Wie im Beitrag von Weisshaupt und Jokeit im zweiten Kapitel dieses Buches näher ausgeführt wird, gehören Dyslexie (respektive Lese- und Rechtschreibstörung) und Dyskalkulie (respektive Rechenstörung) gemäss ICD-1019 zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Aber auch Depression und Diabetes sind in der ICD-10 erfasste Krankheiten oder Störungen. Das Besondere an Dyslexie und Dyskalkulie ist, dass diese Störungen direkt die in der Schule zu erwerbenden Fähigkeiten betreffen und deshalb fast unausweichlich zu Schwierigkeiten führen, etwa beim Schriftspracherwerb oder beim Erwerb mathematischer Fertigkeiten.
Dennoch ist es wichtig, zwischen der Störung und deren Auswirkungen zu unterscheiden. Während Dyslexie oder Dyskalkulie stabile Syndrome sind, sind die damit assoziierten Behinderungen von den spezifischen Anforderungen und den verfügbaren Hilfsmitteln und möglichen Anpassungen abhängig. Zu einer Behinderung gehört sowohl das «Behindertsein» als auch das «Behindertwerden». Ob es einer betroffenen Person gelingt, trotz dieser Störung eine Ausbildung erfolgreich abzuschliessen, hängt davon ab, wieweit sie selbst fähig ist, die vorliegende Störung zu kompensieren und damit umzugehen. Aber auch die schulische Umwelt ist von grosser Bedeutung; sie kann fördernd oder hemmend wirken. Wenn es um Bildung geht, müssen im Fall einer Behinderung zahlreiche Menschen eng zusammenarbeiten: Lehrperson, Eltern, schulische Heilpädagoginnen, Therapeuten, Ärztinnen und vermehrt auch Personen in der Schul- oder Bildungsverwaltung. Da kann es leicht passieren, dass Begriffe unterschiedlich verstanden, Phänomene verschieden eingeschätzt und falsche Schlüsse gezogen werden. Ein zentrales Problem in der Realisierung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist, dass in den Schulen keine gemeinsame und kohärente Sprache etabliert ist, die das Behindertsein und Behindertwerden thematisieren kann.
Ergänzend zur ICD-10 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Klassifikation entwickelt, welche die Folgen von Störungen oder Krankheiten auf die Funktionsfähigkeit erfassen kann. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit20 versteht «Behinderung» als das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt. Die Funktionsfähigkeit wird auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen (biologische Perspektive), der Aktivitäten (psychologische Perspektive) und der Partizipation (soziale Perspektive) erfasst. Das ICF-Modell erlaubt es, eine Störung gemäss ICD-10 zu definieren, die Folgen für die Funktionsfähigkeit zu beschreiben und gleichzeitig auch weitere Einschränkungen der Funktionsfähigkeit zu berücksichtigen – im jeweiligen Kontext der spezifischen Umweltbedingungen (Berufsschule, Ausbildungsbetrieb, Hochschule) und der personenbezogenen Faktoren (Geschlecht, Herkunft, Alter). Das komplexe Zusammenspiel dieser verschiedenen Komponenten wird wie folgt dargestellt:
Abb. 2: Modell der ICF
Quelle: WHO 2005
Lesen und Schreiben können gemäss ICF sowohl als Aktivitäten als auch als Partizipationsbereiche verstanden werden. Unter der Perspektive der individuellen Fähigkeiten werden Lesen und Schreiben als Aktivitäten verstanden; unter der Perspektive der Fähigkeit, in einer sozialen Situation – also etwa in der Schule – an Lesen und Schreiben teilzuhaben, liegt der Fokus auf der Partizipation. Dieser Unterschied ist wichtig, da Lese- und Schreibleistungen von erleichternden (z.B. Vorlesen von Aufgaben bei Prüfungen, Rechtschreibprogramme auf dem Computer) oder erschwerenden Umweltbedingungen (z.B. negative Einstellung der Lehrperson, Zeitdruck) beeinflusst werden. Anhand des Modells und der Klassifikation kann also aufgezeigt werden, welche Faktoren in Bildungskontexten das Lesen und Schreiben erleichtern können.
Unabhängig davon gilt es zu verstehen, dass Probleme beim Lesen und Schreiben auch auf weitere Aktivitäten wirken, die ebenfalls wichtig sind für die Partizipation an Bildungsprozessen. Da Lesen und Schreiben gleichzeitig auch Kulturtechniken sind, die in fast allen Schulfächern fürs Lernen eingesetzt werden, können Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten andere Lernprozesse ebenfalls behindern. Auch hier spielen Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Wenn grundsätzlich der Schriftlichkeit beim Lernen ein grosses Gewicht beigemessen wird, ist dies für betroffene Jugendliche erschwerend. Andererseits können Mindmaps, Fotografien und Abbildungen die Verarbeitung von Informationen bei Lernprozessen erleichtern. Die Nutzung von anderen Aktivitäten fürs Lernen – etwa zeichnen, zuhören oder Diskussionen führen – kann somit die Auswirkung einer Dyslexie auf Lernprozesse vermindern. Bildungskontexte, die den Erwerb und die Anwendung von solchen Lernstrategien fördern, wirken somit erleichternd, während dort zusätzliche Behinderungen zu erwarten sind, wo der Wille oder die Kenntnisse zu solchen Lösungen fehlen. Der Beitrag von Lichtsteiner im vierten Kapitel zeigt zahlreiche Möglichkeiten zur Erleichterung von Lernprozessen auf.
Für die Diagnose von Dyslexie oder Dyskalkulie gibt es zwar klare Kriterien, welche darüber entscheiden helfen, ob diese Störungen tatsächlich vorliegen oder nicht. Diese Kriterien sind zwar notwendig für die Erstellung der Diagnose, aber nicht hinreichend, um die Schwierigkeiten der Betroffenen zu beschreiben. Auch hier kann die Verwendung des Modells und der Klassifikation der ICF hilfreich sein, da sie unterscheidet zwischen einer festgestellten Störung und den Körperfunktionen und Aktivitäten. Dyslexie und Dyskalkulie sind häufig begleitet von Problemen mit Aufmerksamkeit, Kontrolle des Aktivitätsniveaus sowie weiteren neurologischen Auffälligkeiten, wie sie im Beitrag von Weisshaupt und Jokeit in diesem Band näher beschrieben werden. Diese Bereiche werden in der ICF als Körperfunktionen verstanden und im Kapitel «mentale Funktionen» erfasst, zum Beispiel Funktionen des Gedächtnisses oder der Wahrnehmung sowie psychomotorische und sprachlich-kognitive Funktionen. Die Verwendung der ICF erlaubt also eine exaktere Beschreibung der effektiv beim einzelnen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen beeinträchtigten Körperfunktionen und bietet dadurch auch eine bessere Grundlage zur Verständigung über Anpassungen der Prüfungsmodalitäten. Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen schlechten Lese- und Rechtschreibfähigkeiten und Körperfunktionen ist deshalb von grosser Bedeutung, weil damit nachgewiesen werden kann, dass die Ursachen nicht (ausschliesslich) in einer «unangemessenen Beschulung» oder einer «Intelligenzminderung» liegen.
Alle diese Zusammenhänge sind für das hier vorliegende Fachbuch bzw. für die Praxis von grosser Bedeutung, da durch die Unterscheidung zwischen unveränderbarer Störung, den damit eng verbundenen Körperfunktionen, den sich in Entwicklung befindenden Fähigkeiten sowie den vorhandenen Möglichkeiten zur Partizipation erst Zugänge für einen konstruktiven Umgang mit Dyslexie und Dyskalkulie in Bildungskontexten geschaffen werden. Denn Störungen oder Krankheiten führen nur dann zu Behinderungen, wenn damit Einschränkungen der Funktionsfähigkeit verbunden sind. Medizinisch gut kontrollierte Diabetes etwa führt in den seltensten Fällen zu schulisch relevanten Behinderungen. Depressionen hingegen beeinträchtigen die Fähigkeit zu lernen, werden СКАЧАТЬ