Название: Dyslexie, Dyskalkulie
Автор: Monika Müller Freunek
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783039059546
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Auf der Tertiärstufe lässt sich heute eine sehr heterogene Praxis beobachten; einige Hochschulen führen bereits seit vielen Jahren Beratungsstellen für Studierende mit Behinderungen – zum Beispiel die Universität Zürich –, andere verfügen über keine institutionell verankerte Praxis und sind kaum sensibilisiert. Aufgrund der Ergebnisse einer Studie zur Situation von Menschen mit Behinderungen an Schweizer Hochschulen10 besteht weiterhin grosser Handlungsbedarf bezüglich der fehlenden Dienstleistungen und Hilfsmittel sowie bei der Vermeidung von Benachteiligungen. Heute lässt sich beobachten, dass Hochschulen vermehrt Fragen zum Umgang mit Behinderungen unter dem Stichwort «Diversity Management» diskutieren.11 Gemeint ist damit die Entwicklung einer umfassenden Strategie, welche auf die gesamte Diversität an Hochschulen – ob bezüglich Geschlecht, Herkunft, Sprache, Kultur oder Behinderung – ausgerichtet ist.
Neben den Ausbildungsstätten und den für sie verantwortlichen Stellen bei Bund und Kantonen spielt die Invalidenversicherung eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Unterstützungsangeboten und Hilfsmitteln. Gemäss der Verordnung über die Invalidenversicherung (IV) haben Jugendliche und junge Erwachsene mit Eintritt in die erstmalige berufliche Ausbildung Anspruch auf Unterstützungsleistungen der IV – vorausgesetzt, sie werden gemäss den Vorgaben der IV als «invalid» und somit anspruchsberechtigt erachtet. Als erstmalige berufliche Ausbildung gelten neben Berufslehren auch der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule. Entschädigt werden Mehrkosten, die durch die Invalidität entstehen. Dazu gehören: Aufwendungen für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, die Kosten für persönliche Werkzeuge und Berufskleider sowie die Transportkosten. Die Invalidenversicherung geht davon aus, dass solche Einzelmassnahmen adäquat sind; Fragen zu Bildungschancen, lebenslangem Lernen oder Recht auf Bildung können unter der Perspektive von Versicherungsleistungen nicht bearbeitet werden.
Von grosser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie eine Bedarfsabklärung durchgeführt wird. Nur wenn Behinderung als das Ergebnis der Interaktion zwischen bestimmten Charakteristiken der Umwelt und der Person verstanden wird, fliessen Überlegungen zu Anpassungen der Umwelt in die Bedarfsfeststellung ein. Wie im nächsten Kapitel dargelegt werden soll, ist ein adäquates Verständnis von «Behinderung» eine wichtige Voraussetzung, um diese Analyse vornehmen zu können. Der Bedarf für Massnahmen oder Anpassungen kann sowohl beim Auszubildenden als auch bei den Ausbildenden – respektive den Schulen – liegen. Liegt der Bedarf bei der auszubildenden Person, ist es zudem wichtig, zwischen einem eigentlichen Förderbedarf und einem Bedarf an Beratung oder Assistenz zu unterscheiden. Gerade im Jugendalter kann das Vermitteln von Copingstrategien oder Beratungsangeboten sinnvoller sein als das Absolvieren von Förderprogrammen.
1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Mit dem Abschluss der Volksschule treffen Entscheidungen zur weiteren Ausbildung mit Fragen zur Berufswahl zusammen. Die Allokationsfunktion des Bildungssystems konkretisiert sich beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II und hinterlässt Spuren für das ganze Leben. Mit der Berufswahl und dem Suchen einer Lehrstelle oder dem Übertritt in eine Mittelschule werden wichtige Weichen gestellt für die spätere Berufsausübung. Da die berufliche Stellung heute zentral ist für die Lebensführung, ist sie gleichzeitig auch ein wichtiges Instrument für die Lebensplanung.12 Es ist wenig darüber bekannt, welche Faktoren genau bewirken, dass junge Menschen mit Behinderungen häufiger bei diesen Übergängen scheitern. Die verfügbaren Daten im europäischen Vergleich13 weisen auf tiefere Abschlussquoten auf der Sekundarstufe II und eine Überrepräsentation in berufsbildenden Angeboten mit tiefen Qualifikationsansprüchen aus. Auf der Grundlage verfügbarer Daten ist es aber nicht möglich, generalisierte Aussagen zur Bedeutung bestimmter Störungsbilder, wie etwa Dyslexie oder Dyskalkulie, auf die schulische und berufliche Laufbahn zu machen.
In der Schweiz wächst erst langsam das Bewusstsein, dass das Regelsystem des Bildungswesens Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund ihrer Behinderung systematisch benachteiligen könnte. Bisher hat sich der Diskurs eher auf Fragen der sozialen Selektivität des Bildungssystems konzentriert.14 Die Sonderpädagogik konzentriert sich vorwiegend auf Fragen zur besonderen Unterstützung und Förderung und beschäftigt sich gemäss eher gesellschaftskritischen Autoren15 zu wenig mit Diskriminierungsprozessen der Schule. Da Förderentscheide immer Folgen einer Identifikation aufgrund eines Defizits sind und Betroffene gesonderten Massnahmen zuführen, können auch diese benachteiligend wirken. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Identifizierung als «behindert» dazu führt, dass Lehrpersonen tiefere Leistungserwartungen haben,16 was sich insbesondere bei Laufbahnentscheiden negativ auswirken kann. Förderentscheide zugunsten einer Sonderschulung sind gleichzeitig Laufbahnentscheide, die oft den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen verbauen.17
Bedingt durch die lange Tradition der gesonderten Förderung, die aus dem Regelunterricht ausgelagert wird, ist das reguläre Bildungssystem ungeübt im Umgang mit Behinderungen. Ohne gute Koordination verschiedener Dienstleistungen und ohne eine Begleitung im Übergang zur Berufsausbildung oder zu weiterführenden Schulen kann es so leicht zu Überforderungssituationen kommen. Welche Unterstützungen und Anpassungen wie angeboten werden, hängt dann oft von einzelnen Personen ab. Eine fehlende rechtliche Absicherung und somit eine grosse Abhängigkeit vom Wohlwollen der Entscheidungsträger muss als problematisch eingeschätzt werden.18 In den letzten Jahren wurden durch das in der Bundesverfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot und den gesetzlichen Auftrag zur Beseitigung der Benachteiligung von Behinderten zwar die erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen, doch fehlt es noch an einer breiten Umsetzung durch eine entsprechende Rechtsprechung. Der Beitrag von Hördegen und Richli im dritten Kapitel dieses Buches ist unter dieser Perspektive von grosser Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den kommenden Jahren vermehrt in der schulischen Zuweisungs- und Prüfungspraxis berücksichtigt werden.
Der Umgang mit Behinderungen ist in Bildungssystemen auch deshalb so schwierig, weil sich je nach Schädigung und deren Ausprägung andere Fragen stellen – sowohl bezüglich Förderung als auch bei Entscheidungen zur schulischen und beruflichen Laufbahn. Obwohl die Wissensbestände sowohl zu Förder- und Unterstützungsmassnahmen als auch zu Nachteilsausgleich und Gleichstellungsmassnahmen heute gross sind, muss sich auf diesen Grundlagen erst eine gemeinsame Praxis entwickeln, bevor sich die Situation der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich verbessert.
Professionell durchgeführte Bedarfsabklärungen und «Massnahmen am Individuum» genügen hier nicht, um diskriminierende Bildungsentscheide zu vermeiden. Die Anforderungen, welche Ausbildungsgänge der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe an Jugendliche und junge Erwachsene stellen, müssen systematisch mit ihren behinderungsbedingten Lernvoraussetzungen verglichen werden können. Erst auf dieser Grundlage kann abgeschätzt СКАЧАТЬ