Название: Es war eine berühmte Stadt ...
Автор: Christian Klein
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 2013
isbn: 9783429063160
isbn:
Auf den ersten Blick ist deutlich, dass das Geschichtsbild dieser Erzählung mit dem heutigen Verständnis historischer Prozesse unvereinbar ist. Dennoch glaubten manche Forscher, die legendenhafte Abstammung des Pilatus spiegle genauere Kenntnisse über die römische Vergangenheit von Mainz wider. So hat der Germanist Hans Ferdinand Maßmann im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass in Mainz die XXII. Legion gelegen habe, jene Legion also, die während der Zerstörung Jerusalems in Judäa stationiert war. Dies, so vermutet Maßmann, mag auf die örtliche Haftung der Sage Einfluss genommen haben.9 Wer so fragt, verkennt allerdings die Absicht, die der Erzähler der „Historia apocrypha“ verfolgt. Ihm geht es nicht um lokalhistorische Details, sondern um das große Ganze, um eine Deutung der Welt- und Heilsgeschichte. Um ihn zu verstehen, muss man sich zunächst das Bild der Welt vergegenwärtigen, in der seine Erzählung spielt und die sie zu einem großen Teil auch durchmisst.
Dargestellt ist dieses Bild auf den Weltkarten des Mittelalters, auf denen auch Mainz verzeichnet sein kann. Auf der berühmten Wandkarte aus dem Kloster Ebstorf (Abb. 2) ist die Welt eine große Kugel, die nach Osten ausgerichtet ist.10 Ganz oben, also ganz im Osten, liegt das Paradies: Der Osten ist daher die Region des Heils. Mainz dagegen ist fast diametral gegenüber, in maximaler Distanz links unten im fast äußersten Westen zu finden (Abb. 3). Den Ursprung des Gottesmörders Pilatus hier zu suchen, ist angemessen, denn es handelt sich um eine Zone des Unheils und der Gottferne. Adam hatte nach seiner Vertreibung aus dem Paradies einer alten Lehre zufolge im Westen gewohnt, und mit der Kainstat des Brudermords beginnt auch Pilatus seine Laufbahn symbolisch im Westen. Gleichwohl wird auch diese Region von Gottes Heilszusage nicht ausgenommen: Durch die Überführung der Schweißtuchreliquie Veronikas gelangt das Heil nach Rom, das heidnische Weltreich nimmt den Glauben an und öffnet den Westen für jene Kraft, die ihn von der Herrschaft des Bösen – der eigentlichen Krankheit – befreit.11 Dies ist die geschichtliche Mission des Römischen Reiches, das deshalb nach mittelalterlicher Vorstellung bis zum Ende der Welt fortdauern würde.
Darum kann der Erzähler in der „Historia apocrypha“ das Imperium der Antike mit dem Kaiserreich des Mittelalters in eins sehen. Denn er versteht die Geschichte nicht als Veränderung in der Zeit, sondern als geschlossenes Ganzes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen versammelt sind. In diesem „Zeitenraum“12 voller bedeutsamer Spiegelungen und Verweise stehen auch Beginn und Ende des Pilatuslebens in einem geographischen Entsprechungsverhältnis: Wie Geburt und Kindheit mit den deutschen Städten Bamberg und Mainz verbunden sind, berührt der Weg der Leiche Vienne und Lausanne, bevor sie in einem Alpensee versenkt wird. Gibt es irgendeinen Zusammenhang in dieser Topographie des Unheils? In der territorialen Ordnung des Hochmittelalters schon: Zunächst waren alle vier Städte Bischofssitze. Vienne und Lausanne lagen im Königreich Burgund, das vom Hochrhein bis zur Provence reichte und seit dem 11. Jahrhundert Glied des Imperiums war. Damit zeichnet sich die Trias der Reiche Italien, Deutschland und Burgund, auf denen die Kaisermacht beruhte, als Schauplatz des Geschehens ab. In strenger Symmetrie entsprechen den beiden deutschen Bischofssitzen zwei burgundische. Doch nur zwei dieser Stätten hatten eine eigene Pilatustradition: Seit der Weltchronik des Erzbischofs Ado von Vienne galt die alte römische Provinzhauptstadt der „Gallia Viennensis“ als Verbannungs- und Sterbeort des abgesetzten Statthalters. Bamberg hatte zwar selbst keine Pilatusstätte, aber im benachbarten Forchheim gab es einen „Hof des Pilatus“, wie verschiedene Nachrichten belegen. Als gleichwertiges Pendant zu Vienne konnte Bamberg allerdings schwerlich in Betracht kommen. Denn der Erzbischof von Vienne leitete gleich mehrere Kirchenprovinzen und führte deshalb den Ehrentitel eines „Primas der Primasse“ oder „Primas von Gallien“.13 Diese herausragende Vorrangstellung lenkt den Blick auf Mainz, dessen Metropolit in Deutschland ebenfalls den Primastitel beanspruchte, obwohl diese Würde eines „Primas Germaniae“ kirchenrechtlich nie fixiert wurde. Vermutlich ist Mainz also als Pendant zu Vienne in die Legende gelangt, weil die beiden Städte als die ranghöchsten ihrer Reiche angesehen wurden.
Abb. 2: Ebstorfer Weltkarte, ganz oben neben Christuskopf das Irdische Paradies, unten links in Markierung Mainz, um 1300 (Kloster Ebstorf).
Abb. 3: Ebstorfer Weltkarte, Ausschnitt: unter der stark vergrößerten Insel Reichenau (im Wasser-Kreis mit drei Klosterzellen) entlang des Rheins Worms, Mainz (an der Mainmündung) und Koblenz; die Stadtvignetten stehen auf dem Kopf.
Ausgerechnet durch diese sakralen Zentren, an denen die kirchliche und weltliche Ordnung dargestellt, begründet und durchgesetzt wurde, führt die Legende den Lebensweg des Pilatus. Rom selbst, das Haupt des ganzen Reiches, ist Schauplatz für seinen Selbstmord, die einzige Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Ein tiefer Zwiespalt der christlichen Kaiseridee wird damit sichtbar: Einerseits Heilsinstrument und Gottesstaat, war das römische Reich andererseits doch irdisches Menschenwerk. Auch hierzu liefert die Symbolik des in Mainz begangenen Brudermords den Schlüssel: Gemäß der Lehre des Kirchenvaters Augustin war der Brudermord Zeichen für die Heillosigkeit aller weltlichen Herrschaft, die nicht auf den Geboten Gottes gründete. Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, war der erste Bürger des irdischen Staates, jener verruchten „Civitas terrena“, die Augustin der von metaphysischer Gerechtigkeit gelenkten „Civitas Dei“, der Gemeinschaft der Frommen, gegenüberstellte. Wer nur nach den Gütern dieser Welt strebte, so glaubte Augustin, war zu einem friedlichen Zusammenleben mit anderen unfähig, was am Ende zur Zerstörung jeder staatlichen Ordnung führen müsse. Auch Rom war auf einem Brudermord begründet worden und den Gesetzen des irdischen Staates unterworfen. Er lebte weiter in jenen Menschen, die wie Pilatus Stolz und Machtstreben gegenüber Gott den Vorrang gaben.14
Ein Gelehrter des 13. Jahrhunderts sagt über Pilatus, er habe sich mehr gescheut, seine Herrschaft (principatum) zu verlieren, als den obersten Herrscher zu verurteilen, durch den alle Fürsten regieren (per quem omnesprincipes imperant15). Diesen paradoxen Gedanken entfaltet die Legende in einer weltumspannenden Symbolsprache, in der sich wilde Phantasie und philosophische Tiefe untrennbar verschlingen. In dieser Welt ist die Mainzer Abstammung des Pilatus wahr.
II. Sage
Zu den Kennzeichen der Legende gehören besonders in ihrer frühen Fassung die über den gesamten Text verteilten, aus heutiger Sicht oft abenteuerlichen Deutungen der Eigennamen. Selbst der Name des Pilatus wird diesem Verfahren unterzogen und als Zusammensetzung aus „Pila“ und „Atus“ erklärt. In gewisser Weise ist die gesamte Kindheitsgeschichte des Pilatus aus dem Motiv der Namengebung entwickelt – aber auch durch sie beglaubigt. Denn was den heutigen Leser wie eine naive Volksetymologie anmutet, hat für ein mittelalterliches Publikum durchaus Plausibilität: Es entsprach dem damals noch verbreiteten germanischen Brauch, aus dem Namenbestand der väterlichen und mütterlichen Verwandtschaft eines Kindes durch eine sogenannte Sippenkombination den neuen Namen zu bilden. Sehr bald wird deshalb auch der Königsname „Tyrus“ aus der Überlieferung verdrängt, indem der Großvater aus der Namenfindung ausscheidet und bereits Pilatus’ Vater Atus heißt. Auf diese Weise sind tatsächlich beide Sippen, die väterliche und die mütterliche, im Namen des Protagonisten vereinigt.16
Schon eine noch im 12. Jahrhundert entstandene Versbearbeitung17 der Legende überträgt diese Methode von der genealogischen auf die geographische Herkunft des Pilatus:
Urbs fuit insignis, veteres hanc constituere;
Moganus atque Cia fumen rivusque dedere