Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein
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СКАЧАТЬ dazu bestimmt, das Zusammenleben in der Stadt für Generationen zu regeln.3 Wenn ein solcher Mann die Geschichte von Pilatus aufschrieb, dann deshalb, weil er sie für wahr hielt. Warum konnte er das?

       I. Legende

      Rothe hätte vermutlich nachdrücklich widersprochen, wenn man seine Geschichte – wie in diesem Band – unter die Sagen gezählt hätte, denn das wäre in seinen Augen einer Bestreitung nicht nur ihres Wahrheitsanspruchs, sondern auch ihrer religiösen Dignität gleichgekommen. Beruhte sie doch auf einer breiten und ehrwürdigen Überlieferung.4 Denn Pontius Pilatus war ja nicht nur eine Gestalt der Bibel und im Glaubensbekenntnis erwähnt. Auch die ältesten Kirchenväter hatten sich mit ihm beschäftigt und damit die Ausformung des Bildes seiner Persönlichkeit im Mittelalter grundgelegt. So behaupteten die christlichen Autoren Justin und Tertullian, Pilatus habe dem Kaiser einen Brief geschrieben, in dem er über Jesu Leben und seine Wundertaten, über den Prozess und Tod sowie die Auferstehung des Heilands berichtet habe. Pilatus wird hier als Zeuge für die Wahrheit der christlichen Verkündigung sowie für die Unschuld Jesu in Anspruch genommen. Die verfolgte Kirche berief sich auf den römischen Amtsträger. Auf der anderen Seite überlieferte der gelehrte Bischof Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte, dass Pilatus unter der Regierung des Kaisers Caligula ins Unglück geraten sei und sich das Leben genommen habe. Die göttliche Gerechtigkeit habe, so erklärt Eusebius, das Verbrechen am Heiland nicht ungestraft lassen wollen. Im unrühmlichen Untergang des Pilatus bekundet sich für ihn das Walten der göttlichen Vorsehung.

      Zwischen diesen beiden Polen, dem günstigen des „Pilatus-Briefs“ und dem ungünstigen des Selbstmord-Motivs, schwankt die Legendenbildung lange.5 Ihr wichtigstes Sammelbecken, aus dem die weiteren Entwicklungslinien abzweigen, ist das apokryphe Nikodemusevangelium aus dem 5. Jahrhundert. Dieses heterogene Konglomerat von Erzählungen rund um die Passion Jesu Christi besteht in einem ersten Teil aus den sogenannten „Acta Pilati“, einem mit zahlreichen wundersamen Begebenheiten ausgeschmückten Bericht über den Prozess vor Pilatus, in dem dieser stärker als in den kanonischen Evangelien als Fürsprecher Jesu auftritt. Hinzu tritt allerdings schon bald eine Reihe von Anhängen, die die Handlung bis zum Selbstmord des Pilatus weiterspinnen. Dabei tritt mit der Zeit immer stärker die Figur der Veronika in den Vordergrund, einer Frau, der man den Besitz eines mit übernatürlichen Heilkräften ausgestatteten Christusbildes zuschrieb. Dieses Bild, das man sich zunächst als Statue vorstellte, gelangt nach Rom, heilt dort den schwer kranken Kaiser Tiberius und motiviert dadurch dessen Bekehrung und seinen Entschluss, die Schuldigen am Tode Jesu zu bestrafen. So kommt es zu Verurteilung und Selbstmord des Pilatus. Pilatus- und Veronikalegende sind deshalb genetisch eng miteinander verbunden und münden in einen Erzählkomplex, der sich mit der Bestrafung der Gottesmörder beschäftigt. Zu diesen gehören neben Pilatus vor allem und in erster Linie die Juden, denen man die Hauptschuld am Kreuzestod Jesu anlastete. Im Anschluss an die Berichte des Historikers Flavius Josephus, jedoch in zuweilen abstoßend blutrünstiger und antisemitischer Überarbeitung, wurden dabei der Jüdische Krieg des Jahres 70 n. Chr. und die Zerstörung Jerusalems als göttliche Vergeltung für den Mord am Heiland dargestellt und zu einem Gesamtbild der unmittelbaren nachbiblischen Geschichte ausgestaltet.

      Erst im 12. Jahrhundert wendet sich das Interesse wieder stärker der Person des Pilatus zu und er erhält nun auch eine Jugend- und Vorgeschichte. Eine anonyme Prosaerzählung in lateinischer Sprache, die erstmals in Handschriften aus dem 12. Jahrhundert greifbar wird, überliefert die älteste Fassung dieser Legende. Wann genau und wo sie entstanden ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Schon bald wurde sie in die Volkssprachen, darunter auch ins Deutsche, übertragen und in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts übernahm sie der italienische Dominikaner Jacobus de Voragine in sein berühmtes Werk „Legenda Aurea“. Diese Sammlung von Legenden gehörte zu den meistgelesenen Büchern des Mittelalters und über sie erlangte die Pilatus-Legende, meist als eine „Historia apocrypha“6 bezeichnet, weite Verbreitung.

      Hier hat die Geschichte noch einen anderen Charakter als bei Rothe. Ernst und gravitätisch klingt sie, gerichtet an ein gebildetes, und das hieß damals geistliches Publikum. Pilatus’ Vater ist auch nicht König Artus, den man in diesen Kreisen für ein Geschöpf unseriöser Unterhaltungsliteratur hielt, sondern ein Mainzer König mit Namen Tyrus. Auf einer Jagdpartie im Gebiet von Bamberg erkennt der nach Art seiner Standesgenossen in der Kunst der Astronomie ausgebildete Fürst am nächtlichen Himmel eine Sternkonstellation, die einem in jener Nacht empfangenen Kind Ruhm und Herrschaft verheißt. Da ihn seine Gattin nicht begleitet hat, lässt sich Tyrus durch seine Diener eine Frau zuführen, Pila, die Tochter des Müllers Atus, mit der er einen Sohn zeugt. Die Mutter gibt dem Kind den Namen Pilatus. Nach drei Jahren wird der Knabe an den Hof seines Vaters gebracht. Herangewachsen, tötet er aus Neid seinen Halbbruder, der ihm als legitimer Sohn des Königs in allen ritterlichen Wettkämpfen überlegen war (Abb. 1). Zur Strafe wird Pilatus von seinem Vater als Geisel nach Rom geschickt. Dort begeht er einen zweiten Mord: Wiederum aus Neid tötet er seine Mitgeisel Paginus, den Sohn des französischen Königs. Der Ermordete hatte Pilatus an höfischem Anstand und Ehre, moribus et honestate (Z. 37)7, weit übertroffen. Die Römer beschließen daraufhin, den Mörder auf die entlegene Insel Pontus zu entsenden, wo er entweder aufgrund seiner Bosheit die wilden und aufrührerischen Einwohner der römischen Herrschaft unterwerfen oder als verdiente Strafe den Tod finden soll. Pilatus gelingt es in der Tat, die Pontier zu bezwingen; aufgrund dieser Leistung erhält er den Beinamen Poncius (Z. 50). König Herodes, der von Pilatus’ Taten gehört hat, holt ihn als Mitregenten nach Judäa, wird aber nach kurzer Zeit von ihm entmachtet. Erst Prozess und Verurteilung Jesu von Nazareth, an denen Pilatus Herodes teilnehmen lässt, bringen die Versöhnung zwischen den beiden Widersachern. Eine ausführliche Darstellung der als bekannt vorausgesetzten Passionsereignisse hält der Erzähler nicht für nötig. Dennoch bilden sie die geheime Mitte der Pilatusvita. Denn da er sich mit der Verurteilung Christi nach mittelalterlicher Auffassung gegen Gott entschieden hatte, konnte der Richter Pilatus zum Frevler und Gottesfeind schlechthin werden, dem man ein Leben voller Untaten und Verbrechen zuschrieb.

      Abb. 1: Pilatus (mit Krone) tötet seinen Stiefbruder. Miniatur aus Jansen Enikels Weltchronik, um 1420 (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 336, fol. 163r).

      Der zweite Teil der Legende, die Geschichte der göttlichen Vergeltung, verbindet die aus der älteren Tradition bekannten beiden Handlungsstränge um Krankheit und Heilung des Tiberius und die Zerstörung Jerusalems. Zunächst tritt Kaiser Vespasian auf, der später gemeinsam mit seinem Sohn Titus den Feldzug gegen die Juden leiten wird. Als Unterkönig des Tiberius residiert der an Wespen (vespes) in der Nase leidende Vespesianus in Galizien. Zu ihm gelangt durch Schiffbruch ein Bote des Pilatus, der im Auftrag seines Herrn das Urteil gegen Jesus in Rom rechtfertigen soll. Der Erzähler variiert hier die Überlieferung von einem Brief des Pilatus an den Kaiser: Durch die Erzählung des Boten zum Glauben an Christus bekehrt, wird Vespasian gesund und schwört Rache für den Tod seines Heilands. Dann erst setzt die Tiberius-Veronika-Handlung ein. Der ebenfalls schwerkranke Kaiser lässt nach dem berühmten Wunderarzt Jesus suchen. Sein nach Jerusalem entsandter Bote trifft dort auf die Besitzerin des Christusbildes. Seine Unterredung mit ihr enthält zum ersten Mal in der Stoffgeschichte die Deutung des Bildes als Gesichtsabdruck Christi in einem Tuch (vgl. Z. 143–151), ein Hinweis auf die wachsende Verehrung der Schweißtuch-Reliquie, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in Rom bezeugt ist.8

      Gemeinsam mit dem Boten reist Veronika nach Rom, wo Tiberius beim Anblick des Bildes gesund wird. Pilatus, der als Gefangener in die Hauptstadt gebracht wurde, harrt in einem Kerker der Entscheidung über sein Schicksal. Zusammen mit Fürsten und Volk berät der Kaiser darüber, was mit ihm zu geschehen habe. Vespasianus, der zur Vorbereitung des Krieges gegen die Juden nach Rom gekommen ist, verlangt als Strafe den schändlichsten Tod. Pilatus kommt dem zuvor, indem er sich mit seinem Messer die Kehle durchschneidet. Seine Leiche wird in den Tiber geworfen, doch zwingen dämonische Erscheinungen und Unwetter dazu, sie wieder hervorzuholen. СКАЧАТЬ