Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens. Hans-Joachim Höhn
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Название: Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens

Автор: Hans-Joachim Höhn

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783429062224

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СКАЧАТЬ der Universalität. Was wahr ist, gilt für alle – ohne Ansehen der Person, immer und ausnahmslos. Hier gibt es keine Abstufungen. „Halbe“ Wahrheiten kommen streng genommen nicht in Frage. Wer die Wahrheit halbiert, verschweigt die ganze Wahrheit oder ersetzt das Verschwiegene durch Unwahres. Das Adjektiv „wahr“ benötigt keine Steigerungsform und wer „beinahe“ die Wahrheit sagt, sagt eben noch nichts Wahres. Die Grammatik lässt solche Satzbildungen zwar zu, aber die Semantik dementiert sie. Für die Wahrheit gilt die Logik des „entweder / oder“. Sie kennt keine Mittelwerte, keine Kompromisse, kein „sowohl / als auch“. Wer von einer Abstufung oder Rangfolge von Wahrheiten spricht, setzt offensichtlich in einen Plural, das es nur im Singular gibt.

      Unter dieser Rücksicht verlangt die Regel „first things first“ die Anwendung der Unterscheidung „wahr / verlässlich / tragfähig versus unwahr / unzuverlässig / untragbar“ auf religiöse Sinnofferten. Dies ist kein Maßstab, der religiösen Traditionen wesensfremd ist. Zugleich aber ist er zureichend neutral, um auch in philosophischen Diskursen anwendbar zu sein. Nur solche Sinnofferten verdienen Beachtung, die eine verlässliche Orientierung in existenziellen Grund- und Grenzsituationen in Aussicht stellen. Will man anhand dieses Kriteriums das für das Christentum Essentielle benennen, lässt sich in Anknüpfung an das biblische Wahrheitsverständnis als Fundament des Glaubens nur jenes Beständige und Verlässliche ausmachen, dem sich der Mensch im Leben und Sterben anvertrauen kann. Damit kommt wieder in den Blick, wovon eingangs bereits die Rede war: die Anteilhabe am Gottes- und Menschenverhältnis Jesu, das auch der Tod nicht aufheben kann – die Übersetzung von Gottes Welt- und Menschenverhältnis in zwischenmenschliche Entsprechungsverhältnisse – der Vollzug unbedingter Zuwendung in und mit der Koinzidenz von Gottes- und Nächstenliebe.39

      Eine Theologie, welche diesen Erkennungszeichen des Christseins Priorität gibt, kann zwar im Blick auf die Praxis und Reflexion des Glaubens unterscheiden, was den Glauben konstituiert und was ihn expliziert. Aber mit der Identifizierung einer für das Christentum repräsentativen Überzeugung, die zugleich das für den Glauben konstitutive Charakteristikum erfasst, ist noch nicht geklärt, ob es für diese Überzeugung wiederum überzeugende Gründe gibt und wie man sich dieser Gründe vergewissern kann. Wie gewinnt man heute einen Zugang zur Praxis Jesu, mit der die Übersetzung von Gottes Weltverhältnis in die Sphäre der Intersubjektivität verbunden sein soll? Welche Übersetzungen dieser Praxis stehen heute zur Verfügung, um sich ihres Geltungsanspruchs vergewissern zu können? Wie ist sicherzustellen, dass es sich dabei um authentische Übersetzungen eines Originals handelt?

      § 4 Form follows function!

      Maß und Ziel theologischer Reflexion

      Was die Theologie inhaltlich zu leisten hat, bestimmt auch Format und Status, Maß und Ziel ihrer Reflexionen: Ihr Gegenstand ist die Rede von der in Jesus Christus Gestalt und Ereignis gewordenen Übersetzung von Gottes Selbstverhältnis unbedingter Zuwendung in zwischenmenschliche Entsprechungsverhältnisse. Als „Übersetzungswissenschaft“ sieht sich die Theologie somit vor die Aufgabe gestellt, Kriterien und Verfahren zu entwickeln, wie das zu Übersetzende prägnant erfasst und authentisch vergegenwärtigt werden kann. Ihre Kernfrage lautet: Was ist maßgeblich für eine angemessene Vergegenwärtigung von Inhalt und Geltungsanspruch des christlichen Glaubens?

      Traditionell erfolgt die Bewältigung dieser Aufgabe mit dem Rückgriff auf eine „Topologie des Glaubens“, die es übernimmt, Orte der Antreffbarkeit40 des christlichen Kerygmas auszumachen und Kriterien authentischer Aussagen über den geschichtlichen Grund, den Geltungsanspruch und die existenzielle Verlässlichkeit dieses Kerygmas zu identifizieren. Dabei verweist sie auf die drei Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ als den primären Bezeugungsinstanzen der christlichen Verkündigung.41

      Bemerkenswert an diesem Vorgehen ist der Umstand, dass hierbei die spezifischen Umstände und Formate der Glaubenspraxis, vor allem das diakonische Handeln der Christen und ihre liturgische Praxis,42 völlig übergangen werden. Offenkundig steht dahinter die Vorstellung, dass die Glaubenspraxis dem Glaubenswissen untergeordnet ist und lediglich dessen Anwendung oder Umsetzung darstellt. Den Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ wird eine theologische Dignität zugesprochen, die weitgehend unabhängig von der Praxis des Glaubens besteht. Dass für diese Dignität die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt des christlichen Kerygmas mitkonstitutiv ist, kommt nicht in den Blick. Ebenso wenig wird bedacht, dass die Gehalte des christlichen Glaubens nur dort unverkürzt antreffbar sind, wo sie zugleich praktiziert werden.

      Aber auch abgesehen von diesem Manko stellen sich bei der traditionellen Betonung der Trias „Schrift – Tradition – Lehramt“ umgehend Folgeprobleme von erheblicher Tragweite ein. Zum einen droht ein logisch-formaler Kurzschluss, wenn aus der Eigenschaft, de facto Ort der Antreffbarkeit des Kerygmas zu sein, bereits eine besondere Autorität und Normativität dieser Orte abgeleitet wird. Zum anderen wirkt es sich problemverstärkend aus, wenn diese drei Größen nicht bloß formal als Übersetzer des christlichen Kerygmas fungieren, sondern selbst material Übersetzungen vornehmen bzw. darstellen, die im Laufe der Zeit ihrerseits übersetzungsbedürftig werden. Woran lassen sich Authentizität, Normativität und Autorität dieser Übersetzungsleistungen messen? Und schließlich ist ein positivistisches Missverständnis kaum zu vermeiden, wenn den Größen Schrift, Tradition und Lehramt eine Autorität in Glaubensfragen zugeschrieben wird, ohne dass zureichend klar ist, in welchem Bedingungsverhältnis sie zueinander stehen.

      Traditionell hat man diesen Verlegenheiten dadurch entkommen wollen, dass man auf Beweismittel verwies, die unabhängig von den Inhalten des Glaubens die Autorität der Quellen des Glaubens und der Instanzen seiner Vermittlung belegen sollten: Was als Offenbarungsereignis in Frage kam, sollte durch äußere, wundersame Begleitumstände (z. B. Durchbrechung von Naturgesetzen und Erfüllung von Prophezeiungen) ausgewiesen werden. Und ebenso sollte die Autorität bestimmter Größen bei der Bezeugung und Weitergabe authentischer Offenbarungsinhalte durch gleichfalls „übernatürliche“ Einflüsse und Umstände legitimiert werden (z. B. Verbalinspiration der Hl. Schrift oder die Ausstattung der Inhaber des kirchlichen Lehramtes mit einem spezifischen Beistand des Hl. Geistes, der sie vor Fehlentscheidungen bewahrt).43

      Eine historisch-kritisch arbeitende Exegese und Dogmengeschichte hat dieses Vorgehen weitgehend als obsolet erwiesen. Die Versuche seiner Wiederbelebung sind müßig. Aber dies legitimiert nicht den Abbruch der Suche nach möglichen Alternativen. Im Folgenden geht es um die Erörterung des Verhältnisses von Schrift, Tradition und Lehramt, das ohne prekäre „supranaturalistische“ Hilfskonstruktionen auskommt. Auf welcher Basis den Größen „Schrift – Tradition – Lehramt“ Autorität zukommt und unter welchen Voraussetzungen ihr Zusammenspiel für eine zeit- und sachgemäße Übersetzung des Zeugnisses von Jesu Gottes- und Menschenverhältnis in jeweils neue Entsprechungsverhältnisse relevant ist, soll stattdessen auf einem anderen Weg gezeigt werden. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Korrelation zwischen den Inhalten des christlichen Glaubens und den Strukturen seiner Vermittlung zu beachten.

      Bei der Besinnung auf die normative Bedeutung von Schrift, Tradition und Lehramt ist in diesem Kontext zu beachten: Formalen Strukturen der Bezeugung des Glaubens kann nicht unabhängig von den materialen Inhalten des Glaubens eine normative Funktion zugesprochen werden.44 Die Strukturen der Erschließung und die Normen der Weitergabe des christlichen Glaubens müssen in Korrespondenz stehen zu den Inhalten des Glaubens. Erst dann kann – wiederum in Entsprechung zu dieser Relation – gezeigt werden, inwiefern es dem Inhalt des christlichen Glaubens entspricht, dass die Begegnung mit ihm durch Schrift, Tradition und Dogma (bzw. Lehramt) normiert werden kann. Vor allem aber ist zunächst die Basis zu rekonstruieren, auf der überhaupt erst eine solche Reflexion stattfinden kann.

      1. Gottes Selbst- und Weltverhältnis:

      Übersetzung СКАЧАТЬ