Название: Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens
Автор: Hans-Joachim Höhn
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429062224
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Für das Christentum ergibt sich daraus die Herausforderung, das (vergangene) Ereignis einer Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Zeit jeweils neu zu vergegenwärtigen. Denn nur wenn es möglich ist, trotz des zeitlichen Abstandes zum historischen Grundgeschehen der Offenbarung eines „Wortes Gottes“ mit diesem Geschehen ‚gleichzeitig‘ zu werden, ist die Annahme dieser Botschaft verantwortbar. Nur dann kann man nämlich der christlichen Botschaft (Evangelium) selbst auf den Grund gehen, um darauf den eigenen Glauben zu gründen. Lösbar wäre dieses Problem, wenn eine Vergegenwärtigung dieses Grundgeschehens der vergangenen (und historisch einmaligen?) Selbstvergegenwärtigung Gottes gelingen könnte. Wenn nun in ferner Vergangenheit die Zeitgenossen Jesu mit seiner Person und Botschaft eine Gotteserfahrung im Modus unbedingter Zuwendung gemacht haben, wie ist dann diese Erfahrung tradierbar, wenn in der Gegenwart die personale Begegnung mit Jesus von Nazareth nicht mehr möglich ist?
Das Problem der „Ungleichzeitigkeit“ wäre leicht zu bewältigen, könnte man das Geschehen der Offenbarung als Mitteilung einer Information verstehen. Hierbei kann der Inhalt des einst Mitgeteilten weitergegeben werden, ohne den ursprünglichen Akt der Mitteilung wiederholen zu müssen. Anders verhält es sich, wenn der Inhalt der Offenbarung mit ihrem Akt koinzidiert. Dann ist es unabdingbar, zu diesem Akt Zugang zu erhalten. In diesem Fall muss dieser Akt reaktualisiert werden können. Wenn die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth bestimmt ist durch die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung, dann kann es eine Weitergabe und Vergegenwärtigung dieser Offenbarung nur geben, wenn diese Koinzidenz tradiert werden kann. Denn wenn das Welt- und Menschenverhältnis Gottes ein Verhältnis unbedingter Zuwendung ist, dann kann außerhalb eines Vollzuges unbedingter Zuwendung dieses Verhältnis weder offenbar noch vergegenwärtigt werden. Auch Jesus von Nazareth hat in seinem Welt- und Menschenverhältnis das Menschenverhältnis Gottes derart vergegenwärtigt, dass er es praktizierte. Für das Ursprungsgeschehen von Offenbarung wie für dessen Vermittlung gilt somit: Vollzug und Gehalt sind nicht voneinander ablösbar, wenn das Geschehen unbedingter Zuwendung vergegenwärtigt werden soll. Außerhalb seines Vollzuges kann es für diesen Gehalt keine Realpräsenz geben.
Von der Ermöglichung einer zeitversetzten Gleichzeitigkeit mit dem Ursprung des Glaubens hängt auch die Sicherung der Identität und Authentizität seiner Weitergabe ab. Hierzu bedarf es offensichtlich einer diachronen Kontinuität: Lässt sich die Distanz zwischen „damals“ und „heute“ überbrücken, wenn es ein Kontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt? Ein solches zeitliches Kontinuum könnte mit einem sozialen Kontinuum verbunden sein – in Gestalt einer ungebrochenen Überlieferung der Offenbarung Gottes in der Gemeinschaft jener, die an diese Offenbarung glauben.
Die Prüfung, ob eine Botschaft als „Wort Gottes“ verstanden werden kann, hängt ab von der Möglichkeit, sich über ein zeitliches (diachrones) Kontinuum des geschichtlichen Ursprungs dieser Botschaft und ihrer authentischen Vergegenwärtigung vergewissern zu können.
In der katholischen Theologie und Kirche hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass das zeitlich-soziale Kontinuum der Vergegenwärtigung von Gottes Selbstoffenbarung durch die Größen Schrift – Tradition – Lehramt gewährleistet wird. Sie sind Instanzen der Weitergabe des Wortes Gottes (Evangelium) bzw. der Überlieferung und Vermittlung des Glaubens(grundes) zu beständiger Gegenwart.62 Allerdings stellt sich damit erst recht das eingangs bereits angesprochene Legitimationsproblem: Wie lässt sich der Anspruch rechtfertigen, dass diese Größen tatsächlich die authentische Weitergabe des Glaubens sichern können? Gibt es im Blick auf den in der Theologie- und Kirchengeschichte immer wieder aufbrechenden Biblizismus, Traditionalismus und Dogmatismus nicht genügend Gründe für die Annahme, dass diese Größen das Evangelium von der unbedingten Zuwendung Gottes zum Menschen eher entstellt und den Zugang zu ihm verstellt haben? Durchzieht nicht auch die „Heilige“ Schrift ebenso wie die Geschichte der Menschheit eine Blutspur der Gewalt, welche die Behauptung einer Liebe Gottes zu seiner Schöpfung als zynisch erweist? Hat nicht die Berufung auf vermeintlich unhintergehbare Überlieferungen und dogmatische Entscheidungen die Übersetzung des christlichen Kerygmas in neue Entsprechungsverhältnisse immer wieder verhindert? Anhand welcher Kriterien lässt sich erkennen und entscheiden, dass Schrift, Tradition und Lehramt in einer kontraproduktiven Weise für die Weitergabe des Glaubens in Anspruch genommen werden?
Im Rahmen einer theologischen Topologie des christlichen Glaubens werden diese Anfragen in der Regel ignoriert. Stattdessen geht man direkt zur theologischen Legitimation von Schrift, Tradition und Lehramt über. Wie diese Größen eine „äußere“ Beglaubigung der Inhalte des christlichen Glaubens und ihrer Weitergabe leisten (d. h. gleichsam als Bürgen auftreten), so sind sie ihrerseits durch bestimmte äußere Umstände als rechtens verbürgt: Das Neue Testament ist das früheste Zeugnis der Verkündigung Jesu. Als in diesem Sinne Ur-Kunde des Glaubens ist es wegen seiner apostolischen Verfasserschaft zugleich sein ursprüngliches und für alle anderen Vermittlungsweisen maßgebliches Zeugnis. Die Wahrheit dieses Zeugnisses sieht man verbürgt durch die „Inspiration“ der Autoren der neutestamentlichen Schriften. Die Tradition besteht dann in der authentischen Weitergabe dieses ursprünglichen Zeugnisses – beginnend bei den Zeugen der Verkündigung Jesu und über die schriftliche und mündliche Überlieferung dieser Überlieferung sich fortsetzend bis in die Gegenwart. Die Authentizität dieser Überlieferung sieht man wiederum verbürgt durch die „externe“ Instanz des kirchlichen Lehramtes. Dessen Träger sind dazu aufgrund der ihnen im Akt der (Bischofs)Weihe vermittelten Amtsgnade in besonderer Weise bevollmächtigt, was sie in entsprechenden Lehrentscheidungen zum Ausdruck bringen. Diese Lehrentscheidungen halten fest, was von Christen zu glauben ist.63
Die Problematik dieses Ansatzes, dem es primär um die Wahrung der Unversehrtheit der christlichen Botschaft geht, lässt sich durch eine Analogie verdeutlichen: Der Absender eines Briefes will sichergehen, dass seine Nachricht unverfälscht den Empfänger erreicht. Darum hat er sein Schreiben sorgfältig kuvertiert, den Briefumschlag fest verschlossen und bringt ihn als Einschreiben auf den Zustellweg. Damit ist eine lückenlose und als solche überprüfbare Weitergabe seines Briefes sichergestellt, bis er beim Adressaten ankommt. Ähnlich muss man für die Weitergabe des Evangeliums sorgen. Um sicherzugehen, dass der Inhalt des Evangeliums unverfälscht und unverändert, d. h. „original“, tradiert wird, muss man ihn in einem verschlossenen und versiegelten Umschlag weitergeben. Man muss die Boten seiner Weitergabe durch einen besonderen Eid auf ihre treue Dienstausübung verpflichten, ein Überwachungssystem installieren, das die Erfüllung dieses Eides kontrolliert, die Überwacher einem besonders strengen Auswahlverfahren unterziehen etc. Nur eines darf nicht geschehen: dass der Umschlag unterwegs geöffnet wird und in falsche Hände gerät. Und sollte er bei seinem rechtmäßigen Empfänger endlich ankommen, wird dieser gut beraten sein, Brief samt Umschlag angesichts der Bedeutung seines Inhaltes möglichst sicher zu verwahren.
So wenig eine solche extrinsezistische Absicherung der Weitergabe des Evangeliums jemals dazu führt, dass sich die Wahrheit des Evangeliums in seiner Praxis zeigt, so wenig genügt der Nachweis einer ungebrochenen Tradition und ebenso wenig reicht ein dem Inhalt äußerliches formales Kriterium aus, um sich existenziell und materialiter des Glaubensgrundes zu vergewissern. Wer sein Leben auf den Glauben an das Evangelium gründen will, dem kann zur Begründung der Hinweis auf eine geschichtlich niemals abgerissene Weitergabe des Evangeliums nicht genügen. Die Gewissheit einer existenziellen Tragfähigkeit des Glaubens, der Wahrheit seines Gegenstands und der Authentizität seines Ursprungs kann nur gegründet sein in der direkten Begegnung mit einer Botschaft, deren Wahrheit den Glauben zugleich weckt und trägt.
Die klassische Deutung des Zusammenwirkens von Schrift, Tradition und Dogma / Lehramt weist den Konstruktionsfehler auf, dass sie die Authentizität der Weitergabe der christlichen Botschaft primär von der Beachtung formaler Kriterien – wie etwa der apostolischen Sukzession kirchlicher Amtsträger – abhängig macht. Zwar steht dahinter die durchaus zutreffende Annahme: Der Geltungsanspruch der christlichen Verkündigung ist nur dann einlösbar, wenn durch sie die Offenbarung des „Wortes Gottes“ geschichtlich tradierbar und sozio-kulturell СКАЧАТЬ