Название: Unsterblich?!
Автор: Werner Huemer
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831257591
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Vesal war der erste, der in der Öffentlichkeit menschliche Leichen und auch lebendige Tiere zergliederte, um Körperfunktionen zu verstehen und verständlich zu machen. Aber schon davor, im ausgehenden 13. Jahrhundert, als es darum ging, die Ursachen von Seuchen zu ergründen, wurde erstmals nachweislich das große Tabu gebrochen, einen Körper zu öffnen.
Heute können wir uns kaum vorstellen, was das bedeutete. Denn die kollektiven Gedankenformen waren damals ja geprägt von der christlichen Überzeugung, jeder Mensch würde am Tag des Jüngsten Gerichts leiblich wieder auferstehen. Die Seele blieb demnach auf magische Weise auch über den Tod hinaus mit dem verstorbenen Leib verbunden, und eine Zergliederung dieses Leibes musste dramatische Folgen für die Seele haben.
In manchen Fällen war die möglichst „vollständige Vernichtung“ eines Menschen jedoch erwünscht. So gab es verschärfte Hinrichtungsmethoden für Schwerverbrecher. Deren Körper wurden gezielt zerstückelt und verstümmelt (durch Köpfen, Herzentnahme oder Entdärmung) sowie verstreut oder an unterschiedlichen Orten dem Vogelfraß überlassen. Im Normalfall aber galt der Leib eines Toten als unantastbar; es herrschte ein „Sektionstabu“.
Als später im „Anatomischen Theater“ öffentlich Leichenzergliederungen zelebriert wurden, verwendete man zunächst nur Leichen von kurz davor hingerichteten Verbrechern. Sie hatten keine Totenrechte, und um ihr seelisches Wohl sorgte sich wohl niemand. Zum Vergnügen der höheren Gesellschaft und der „ehrbaren Bürger“ – das waren Könige, Fürsten, Adelige und Geistliche – führten Anatomen coram publico Leichenzergliederungen durch. Die Ära dieses offenbar unterhaltsamen Anatomie-Spektakels erreichte im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt, dauerte aber bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.
Die Strafjustiz, genauer gesagt: der Henker, lieferte somit über Hunderte von Jahren das „Material“ für die medizinische Grundlagenforschung. Später wurden neben Exekutierten auch Verstorbene aus ärmeren Schichten öffentlich zergliedert. Wobei die Regel galt: Je tiefer jemand im sozialen Status steht, desto radikaler darf er zerstückelt werden.
Als sich im 18. Jahrhundert schließlich die Tore für die Öffentlichkeit schlossen, wurde die Tradition, durch Fragmentierungstechniken neue Erkenntnisse zu gewinnen, in den Krankenhäusern fortgesetzt. Anna Bergmann zeichnet in ihrem Buch „Der entseelte Patient“ überzeugend eine Entwicklungslinie nach, die vom „Anatomischen Theater“ über die Menschenexperimente in Gefängnissen und Konzentrationslagern bis hin zur modernen Praxis der Transplantationsmedizin führt. Heute wie ehedem geht es nach ihrer Ansicht um „das Phantasma der Sterblichkeitsüberwindung“.
Bergmann: „Die menschliche Sterblichkeit, die Unfassbarkeit des Todes zählen zu den größten Angstquellen und werden daher wahrscheinlich zu Recht von Ethnologen und Religionswissenschaftlern für den Ursprung der Religionen verantwortlich gemacht. Schließlich haben alle Religionen den Glauben an ein Leben nach dem Tod beziehungsweise an die Unsterblichkeit gemeinsam.“ Im Zuge eines „Verweltlichungsprozesses“ habe die Medizin „im Überwindungsversuch der menschlichen Sterblichkeit“ inzwischen eine Vorreiterrolle eingenommen, die „von keiner christlichen Kirche in Frage gestellt“ werde.
Dabei spiele die alte „Opferlogik“ nach wie vor eine Rolle: Zugunsten von Fortschritt und Nützlichkeit würden auch Menschenopfer in Kauf genommen: „In dem zweckrational begründeten Vorgehen der Zergliederung, der Vivisektion von Tieren und des Menschenversuchs liegen Quellen experimenteller Gewalt- und Folterpraktiken, denen durch die hehre Forschungsintention, das Leben von möglichst vielen Menschen zu retten, keine Grenzen gesetzt sind.“
Kurzum: Unser Ausflug in die Geschichte zeigt, dass sich, gefördert durch katastrophale Naturereignisse, die Unsterblichkeits-Zuständigkeit – früher Kirche, heute Medizin – über die Jahrhunderte grundlegend verändert hat. Ob aber der moderne Ansatz, das ewige Leben mit dem Skalpell zu erzwingen – oder, sachlicher formuliert, den Kampf gegen die Vergänglichkeit mit Hilfe der Apparatemedizin zu führen –, nicht ebenfalls ein Irrweg ist, werden wir noch diskutieren.
Interessanterweise wurde in früherer Zeit der Begriff „Leib“ – abgeleitet von lib = Leben – verwendet, womit dessen Beseelung zum Ausdruck kam. Heute sprechen wir statt dessen vom „Körper“ – abgeleitet von corpus = Leichnam.
Haben uns Anatomie und Chirurgie von der Erkenntnis des Lebens am Ende noch weiter entfernt? Ein böser Verdacht.
Die ewige Angst vor dem Tod
Etwas jedenfalls blieb dem Homo sapiens trotz aller Erkenntnisse und unabhängig von der Entwicklung seines Weltbildes erhalten: die Angst vor dem Tod, vor dem großen Unbekannten, mit dem das bewusste Sein beendet wird.
Von dem bedeutenden französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), der selbst in seinem Wissensdrang Tiere zergliederte (und sie letztlich zu seelenlosen, schmerzunempfindlichen Wesen erklärte), aber auch von dem richtungweisenden englischen Physiker Sir Isaac Newton (1642–1727) oder dem großen deutschen Astronomen Johannes Kepler (1571–1630) ist bekannt, dass sie lange Zeit unter Todesängsten litten. Die Biographien dieser Denker und Forscher sind Beispiele, die zeigen, dass es offenbar keinen verlässlichen intellektuellen Weg gibt, um diese typisch menschlichen Bangigkeitsgefühle zu überwinden.
Die Angst vor dem Tod: Bei näherer Betrachtung geht es dabei zum einen um die Furcht, als Individuum ausgelöscht zu werden, also alles zu verlieren, was als „Ich“ erlebt wird – Bewusstsein, Identität, Erinnerung und Zukunft. Neben dieser Angst vor dem „Nichts“ besteht aber gleichzeitig auch die Angst vor dem „Etwas“, vor etwas Unberechenbarem, Unbekanntem, das sich des Lebens bemächtigt oder womöglich in gruseliger Art und Weise aus dem Jenseits in das Diesseits greift.
Während der Mensch Jahrhunderte lang vor allem im Glauben Zuflucht vor seiner eigenen Todesangst suchte, entwickelte er zu Beginn der Aufklärung eine neue Strategie der Furchtbewältigung. Das heißt … so neu war sie eigentlich nicht: Es wurden „Schuldige“ gesucht, gefunden und bestraft, um sich die „Gottes Gnade“ – und damit ein angstfreies Gewissen – zu erkaufen.
Von solchen Projektionen berichtet schon das Alte Testament der Bibel. Aus einer jüdischen Zeremonie stammt der bekannte Begriff „Sündenbock“. Am „Tag der Vergebung“ machte der Hohepriester die Sünden seines Volkes bekannt und übertrug sie durch Handauflegen auf einen Ziegenbock. Dieser wurde daraufhin, beladen mit allen Sünden, in die Wüste geschickt. Das Volk konnte sich befreit und erlöst fühlen …
Die Sündenböcke des 17. Jahrhunderts waren die Hexen. Sie standen stellvertretend für das Unberechenbare, Angstauslösende, das vernichtet werden musste, um Gottes Gunst zu gewinnen. Die Idee, dass dieser „Handel mit dem Himmel“ funktioniert, verfestigte sich zum regelrechten Wahn und forderte zahllose Opfer. Die Schätzungen reichen von 40.000 bis zu mehreren Hunderttausend ermordeten „Hexen“ und „Hexern“ in Europa.
Hier brennende Scheiterhaufen, dort Leichenzergliederungen im Anatomischen Theater … der Tod war in der beginnenden Neuzeit omnipräsent. Die Angst davor sicher ebenfalls. Und sie wurde wohl noch verstärkt durch teils furchterregende Personifizierungen, etwa die Vorstellung vom gesichtslosen „Sensenmann“, die auf christliche und vorchristliche Mythologien zurückgeht.
Wirken solche Bilder vielleicht bis heute im „Seelenhintergrund“ mancher Menschen? „Sicher hat die Angst auch mit der Personifizierung des Todes zu tun“, sagt der Münchner Vortragsreferent Siegfried Bauer, der zum Thema „Tod und Jenseits“ einen bemerkenswerten Text im Angebot hat. „Wir kennen alle die Bilder vom Sensenmann, der in der einen Hand eine Sanduhr hält, die die abgelaufene Zeit anzeigt. Die Sense in seiner anderen Hand СКАЧАТЬ