Название: Lieber Tod, wir müssen reden
Автор: Muriel Marondel
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831269266
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Kaum einer hat mich angerufen. Selbst Menschen, von denen ich dachte, sie seien enge Vertraute: nichts. Langjährige Freundinnen aus der Schulzeit, die meinen Vater seit meiner Jugend kannten, meldeten sich mit kurzen schriftlichen Beileidsbekundungen. Danach habe ich nie wieder etwas gehört. Ein Anruf in einer der Stunden, in denen ich verängstigt und tief traurig im Bett lag, hätte mich gefreut. Glaube ich. Der Versuch eines Anrufes zumindest.
Vielleicht löst die Nachricht über mein »wiedererlangtes Glück« deshalb solch gemischte Gefühle bei mir aus. Mein Facebook-Profilbild sagt also mehr darüber aus, wie es mir geht, als ein Anruf, indem man mich einfach fragt, wie es mir geht?
»Ihr macht es euch ganz schön leicht, ihr unverbindlichen Gefühlskrüppel«, schießt es mir durch den Kopf. Ja, ich bin wütend in manchen Momenten und denke solche Sachen. Und frage mich gleichzeitig insgeheim, ob ich anders handeln würde, hätte ich nicht das erlebt, was ich erlebt habe.
Ich denke an all die Menschen, die Papa nie angerufen haben, als er erbittert gegen den Krebs kämpfte. »Wir wussten nicht, wie schlimm es um ihn stand«, sagten sie dann. Ich denke an seinen traurigen Gesichtsausdruck, als ich ihn fragte, ob sich der ein oder andere denn nun bei ihm gemeldet habe. »Nein, gar nicht mehr«, sagte er dann leise und tat mir so unendlich leid. Hat er gedacht, dass er diesen Menschen nichts bedeutete? Ich denke das nämlich über die Leute, die sich nicht mehr bei mir melden, die mich auf einmal wie die Pest meiden. Dieser scheiß Tod, die glauben wohl alle, er sei ansteckend. Steht hinter dem Ganzen eine Ohnmacht? Die eigene Angst vor dem Tod? Oder die Unfähigkeit, an schwierigen Situationen teilzuhaben?
»Vielleicht sind wir ja alle leer getrunkene Tassen«, denke ich.
Trauer ist nicht sexy
Mathis kommt ins Bett und wünscht mir eine gute Nacht. Dann dreht er mir dem Rücken zu. Jeden Abend. Unsere Beziehung hat sich mit der Trauer verändert. Ich habe mich verändert. Mit einer normalen Paarbeziehung hat das nicht mehr viel zu tun. Er gibt sich Mühe, das glaube ich wirklich. Aber nachts, da gibt es keine Umarmungen mehr, keine Berührung. Nein, Sex haben wir auch nicht. Das liegt an mir. Allein die Vorstellung lässt mich erschaudern. Mein Unterleib ist eigentlich nicht existent. Das Schlimmste ist aber, dass ich auch nicht mehr viel fühlen kann. Für ihn.
Ich bin nicht mehr verliebt in Mathis, ich könnte nicht einmal sagen, ob ich ihn noch liebe. Ich fühle einfach nichts, außer dass ich will, dass er bei mir bleibt. Ich fühle Schmerz, manchmal fühle ich mich abgelenkt von diesem Schmerz. Den Rest des Tages bin ich müde. Ich will eigentlich immerzu schlafen.
Ich kenne das nicht, ich kenne all diese Zustände, die ich durchlebe, nicht. Ich fühle mich aufgerieben, verletzlich und klein. Ich möchte umsorgt werden. Ich wünsche mir, dass er mich zudeckt und mir Tee kocht und einfach da ist, wenn ich mich in den Schlaf weine. Oder nicht sofort einschläft, wenn ich neben ihm liege und nicht schlafen kann. Das ist es, was ich brauche. Ich weiß, dass ich das nicht verlangen kann, aber es wäre schön, wenn wir darüber sprechen könnten. Ich glaube, er fühlt sich überfordert. Wir sind so oft still, wenn wir allein sind. Er ist fast unbeholfen mit mir. Wir sind zwei Jahre zusammen, es ist nicht so, dass er mich nicht kennen würde.
Aber plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir uns fremd geworden sind. Ich wünschte so sehr, er könnte mich verstehen. Ich wünschte mir so sehr, es wäre so wie früher mit mir. Ich wünschte, ich könnte wieder so sein wie früher. Aber zwischen uns ist eine unsichtbare Wand entstanden – er ist in seiner, ich bin in meiner Welt. Er mochte meinen Vater, sehr. Er weinte mit mir. Er weinte unglaublich viel auf der Beerdigung.
Aber jetzt, zwei Monate später, habe ich das Gefühl, dass ich ihm nur noch eine Last bin. Weil er es nicht besser machen konnte. Vielleicht, weil er nicht aushält, dass er mich aushalten muss. Ich werde morgen allein zurückreisen, er bleibt bei seiner Mutter in Frankreich, und wir haben einige Wochen Pause voneinander. Bestimmt wird danach alles wieder gut. Dann kommt er ins Bett gekrochen und umarmt mich wieder, ich kuschel mich an ihn, und wir können wieder über alles sprechen.
Ich muss einfach festhalten. An der Hoffnung festhalten. Nichts außer der Hoffnung, dass diese schwere Zeit irgendwann vorübergeht.
Zwei Wochen später
Ich bin nun seit zwei Wochen zurück in Deutschland. Ein wenig besser geht es mir. Die Panikattacken sind weniger geworden. Aber ich fühle mich noch immer oft müde und traurig. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Depressionen und Trauer? Mein Psychiater sagt, ich habe eine Depression. Ich weiß nicht, was ich mit diesem Begriff anfangen soll. Ich weiß nicht, ob ich krank bin oder einfach nur traurig. Ich weiß, dass ich mich in meiner eigenen kleinen Welt befinde, in der ich an meinen Vater denke und Sehnsucht nach ihm verspüre. Ich möchte diese Welt nicht aufgeben. Es ist meine einzige Verbindung zu ihm. Ist das Depression? Ich nehme einfach an, was man mir so sagt. Für alles andere habe ich eh keine Kraft. Ich will einfach nur, dass mir geholfen wird. Ich will wieder aufwachen können und keinen schweren Bleiberg mehr auf meinem Herzen spüren müssen. Eine gute Sache habe ich zu verzeichnen: Ich vermisse Mathis. Ich bin froh über dieses Gefühl. Es ist immer noch nicht wie zuvor, aber ich habe mich in den vergangenen Wochen nach ihm gesehnt. Nach einem Kuss von ihm. Heute Abend skype ich mit ihm, und ich freue mich darauf, seine Stimme zu hören. Auf den starken französischen Akzent, den er hat, wenn er mit mir auf Deutsch spricht, was er meistens nur tut, wenn ich sauer auf ihn bin. Er weiß, dass ich eine Schwäche für seinen Akzent habe.
Als ich Mathis kennenlernte, war er ein ziemlich wilder Partyboy. Vielleicht das, was man einen Filou nennen kann. Aber mit mir war er immer sehr schüchtern. Nach unserem ersten Treffen bin ich furchtbar krank geworden und konnte vor lauter Heiserkeit nur noch flüstern.
Unser erstes richtiges Date musste also einige Wochen warten. Als es so weit war, zogen wir gemeinsam durch Berlin – in einer Nacht, in der Menschen auf ihren Balkonen Performances aufgeführt haben. »Die Nacht der singenden Balkone«. Ich war es, die ihn küsste, weil er sich nicht traute. Mathis war auf einmal kein Filou mehr. Mathis war über beide Ohren verliebt. Bei unserem dritten Date kochte er ein Festmahl für mich, und wir redeten die ganze Nacht. Von da an waren wir eigentlich unzertrennlich. Es war eine große Liebe zwischen mir und ihm.
Jetzt, wo wir das erste Mal einige Wochen voneinander getrennt sind, denke ich wieder öfters an diese Zeit. Ich werde mich ihm öffnen, wenn er wieder hier ist. Er hat sich in den vergangenen Wochen nur über Nachrichten gemeldet, aber ich glaube, es geht ihm gut in Frankreich. Ich bin froh, dass er aus der Verantwortung genommen wurde, sich um mich zu kümmern. Er soll Kraft tanken, so wie ich. Alles wird gut. Alles wird wieder gut. Morgen ist Papas Geburtstag. Der erste Geburtstag seit seinem Tod. Das erste Mal kein Anruf, kein Geschenk, keine Grußkarte. Kein Papa mehr. Ich bin froh, später zumindest Mathis’ Stimme hören zu können.
»Es ist vorbei.« Er weint. »Es hat nichts mit deiner Trauer zu tun.« Er will, dass ich das weiß. Er hätte mich einfach nicht vermisst. Er weiß jetzt, dass er mich nicht mehr liebt.
»Zwei Jahre«, stottere ich. Es sei doch vor Papas Tod alles noch gut gewesen.
»Es ist aber jetzt kaputt«, sagt er.
»Morgen ist Papas Geburtstag, du bist nicht mal im Land, ich war immer für СКАЧАТЬ