Название: Lieber Tod, wir müssen reden
Автор: Muriel Marondel
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831269266
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»Hey, das wird schon wieder«, sagen sie dann. Ich will aber nicht, dass es wieder wird, denke ich dann. Ich will meinen Papa zurückhaben. Ich will nur das. Ich will nichts anderes. Ich will doch nur meinen Papa zurück. Und ich lächle gequält. Und sage dann leise: »Schon okay.«
Was für ein Druck das Tapfer-sein-Müssen sein kann.
»Komm schon, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Andere verlieren ihre Kinder. Stell dir mal vor, wie schlimm das ist«, sagen sie.
Sie stammeln irgendein Zeug für mich. Und dann laufe ich nach Hause, und ich fühle mich so einsam und gemein, weil ich doch nicht will, dass andere ihre Kinder verlieren, und ich doch weiß, wie schlimm das bestimmt ist. Und ich trotzdem meine tief schürfende Traurigkeit nicht wegzaubern kann, auch wenn andere ihre Kinder verlieren.
Manchmal wünsche ich mir, einer von euch würde mir schreiben, dass er sich Freitagabend zu mir aufs Sofa legt. Ohne dass ich reden muss, mich erklären. Nur liegen. Und wenn ich dann doch Worte finde, Worte über dieses fürchterliche Brennen in meiner Brust, dann hört mir dieser Mensch einfach zu. Er bietet mir keine Lösung an. Er weiß, dass ich das nicht wegmachen kann. Und er auch nicht.
»Melde dich, wenn du etwas brauchst«, sagen sie. Aber wie soll ich das tun, wenn ich doch selbst manchmal gar nicht weiß, was ich brauche? Ich weiß doch nicht mal, wie ich das schaffen soll, so ohne Kraft.
Ruft mich an, bitte. Und wenn ich nicht abhebe, dann kommt doch mal vorbei und küsst mir die Stirn und kocht mir einen Tee und seid da. Und wenn ich unwirsch reagiere, dann seid mir bitte nicht böse. Ich bin nämlich ziemlich verloren gerade.
Und ich brauche euch, manchmal. Bitte haltet mich aus. Manchmal, nur für ein paar Stunden. Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Weil ihr keine Antwort habt auf all das – und trotzdem Antworten gebt, weil ihr denkt, das muss so sein. Ich nehme euch das nicht übel.
Haltet mich nur ein bisschen aus, bitte. Und irgendwann, wenn ihr dann in eine Situation kommt, in der man euch aushalten muss, auch wenn es schwer ist, dann werde ich kommen und eure Stirn küssen und mich zu euch legen und euch einen Tee kochen. Und ich werde eure Hand nehmen und euch sagen, dass ich die Antwort auch nicht weiß, aber dass ich trotzdem für ein paar Stunden bleibe. Weil es nur ums Aushalten geht. Zusammen.
Ich bin zu viel. Viel zu viel zu viel.
Was weiß ich schon von dir?
Als ich an diesem sonnigen Tag nach Hause laufe und die blühenden Bäume des Frühsommers betrachte, denke ich an einen Spaziergang mit Papa.
»Weißt du, wenn man so krank ist wie ich, saugt man das, was man sieht, förmlich auf«, sagte er damals und blickte in die Schneelandschaft. »Ja«, antwortete ich nur und konnte nicht mehr dazu sagen, weil ich ja nicht wusste, wie es war, wenn man so krank ist. Ich wusste nur, dass es wehtat, das zu hören. Weil ich ihm seine Krankheit nicht abnehmen konnte und ich mich so furchtbar hilflos fühlte.
Später gingen wir gemeinsam in eine Kirche, und Mama und ich zündeten eine Kerze für ihn an. Er war nicht religiös, aber Papa war trotzdem gern in Kirchen. Wir setzten uns auf eine der Bänke, und ich streichelte über sein Gesicht. Mathis, der immer mit seiner Kamera unterwegs war, schoss von diesem Moment ein Bild. Ich sehe Papa ganz liebevoll an, und Papa blickt zu Boden. Ich habe das Foto an meinen Spiegel geheftet.
Papa und ich hatten ein seltsames Verhältnis. Er blieb immer ein Mysterium für mich. Er war ein charmanter Mann, gut aussehend, groß und schlau. Ein Mensch, der mit seiner Präsenz Räume ausfüllte, den alle Menschen mochten und der immer etwas Sinnvolles zu sagen hatte. Ich nannte ihn »das wandelnde Lexikon«. Bei »Wer wird Millionär?« wusste er fast immer die richtige Antwort, und er konnte bei Ausflügen stundenlang über die Geschichte der historischen Bauwerke erzählen, ob man es hören wollte oder nicht. Papa konnte alles reparieren, wirklich alles.
Als Kinder gingen wir oft mit ihm in den Wald und sammelten Pilze. Er wusste natürlich immer, welche Sorte wir da gerade gefunden hatten, und wenn nicht, sah er in seinem schlauen Pilzbuch nach. Auf Papa war Verlass. Er liebte die Natur, und ich empfand ihn dort immer am ausgeglichensten. Meine Freunde zu Teenagerzeiten liebten ihn, auch weil sie ihr Marihuana in unserem Garten anbauen durften. »Dein Vater ist der Coolste«, sagten sie immer. Ein versonnenes »Ja« antwortete ich daraufhin und verstummte, so wie ich es immer tue, wenn etwas schmerzt, ich es aber nicht zugeben will.
Denn das Leben mit ihm als Vater war nicht immer leicht. Es war eigentlich sehr oft nicht leicht. Er war trotz seines unermüdlichen Einsatzes, wenn es darum ging, seine Familie zu versorgen und ihr praktisch zur Seite zu stehen, auch ein Getriebener: ruhelos und ausweichend, manchmal cholerisch, wenn es emotional wurde. Als würde er es abwehren wollen, dass man in ihn hineinblicken konnte. Er arbeitete immer viel, und ich habe manchmal das Gefühl, dass ich ihn nie wirklich kennengelernt hatte. Väter fehlen oft, auch wenn sie da sind.
Ich setze mich auf eine Parkbank, das Laufen macht mich schnell müde. Ich komme mir eingeschränkt vor. Es ist, als ob die Schwere meines Herzens auch auf meinen Körper übergegriffen hätte.
Ich stelle mir vor, wie er als junger Mann, der gut und gern malte, in den Berliner Bars saß und trank und feierte und Geschichten erzählte und nicht richtig wusste, wer er war. Er hatte lange Haare und oft französische Freundinnen, deshalb sprach er ganz gut Französisch. Einmal spielte er in einer Szene in einem feministischen Film, der »Der subjektive Faktor« hieß, mit. Bis heute habe ich sie nicht gesehen. Momentan kann ich sowieso keine Bilder von Papa sehen. Ich halte es nicht aus, ohne bitterlich zu weinen. Ich frage mich, ob ich wusste, wer er war, wenn er selbst nicht wusste, wer er war. Was wusste ich eigentlich über ihn?
Er war der Sohn einer Affäre der 50er-Jahre. Ein uneheliches Kind. Damals war das eine Schande. Seine Mutter gab ihn die ersten Jahre zu ihren Eltern an den Schliersee. Das waren seine Worte. Sie »gab ihn dorthin«, während sie in München als Dolmetscherin arbeitete. Sie sollte einen neuen Mann finden, glaube ich. Und das war leichter ohne Kind. Zumindest sollte die Tatsache, dass sie ein Kind mit einem Mann gezeugt hatte, den sie in einer Bar kennengelernt hatte, vertuscht werden.
Seine Großmutter war eine stämmige, mütterliche Frau aus einer Hamburger Seemannsfamilie, sie trug oft einen Dutt und bayerische Trachten. Sein Großvater war ein Ingenieur aus Potsdam, er hatte meines Erachtens wirklich die buschigsten Augenbrauen der Welt und war zur damaligen Zeit Chefkonstrukteur bei BMW. Ein Mann, der viel geleistet hat. Zumindest habe ich das in seinem Wikipedia-Eintrag gelesen. Dort in den Bergen lebte mein Vater also in einer Villa mit Schwimmbad, hatte ein Kindermädchen, es gab einen Familienhund und viel Liebe. Von dieser Zeit sprach mein Vater gern.
Seine Mutter blieb eine Besucherin. Irgendwann besuchte sie ihn nicht mehr allein, sondern mit einem Mann. Das sei sein Vater, hatte man ihm gesagt. Dass er das nie heimlich infrage gestellt hat, glaube ich bis heute nicht wirklich.
Und so heiratete meine Großmutter, die ich selbst nie kennengelernt habe, da sie wie mein Vater mit 57 Jahren starb, diesen Mann. Und mein Vater wurde nach München geholt, in eine piefige Mietswohnung, und verweigerte die ersten Wochen aus Kummer um den Verlust seines bisherigen Lebens das Essen. Seine Mutter bekam zwei Kinder mit diesem Mann, der jetzt der Vater meines Vaters war. Ein Ingenieur aus Schlesien, den sie in ihrer Arbeitsstelle kennengelernt hatte. Er war ganz in Ordnung, aber СКАЧАТЬ