Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel Marondel
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Название: Lieber Tod, wir müssen reden

Автор: Muriel Marondel

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная психология

Серия:

isbn: 9783831269266

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СКАЧАТЬ andere Frau. Verrückt sah sie nicht aus, sie strahlte sogar eher eine gleichmütige Freundlichkeit aus. Wahrscheinlich schon medikamentös eingestellt. »Uff, hör auf, so zynisch zu sein!«, fahre ich mich selbst an. Aber ich weiß auch nicht wirklich, wie ich dieser Situation gerade anders begegnen soll.

      »Haaaallo, hören Sie mir zu?«, fragt mich der Psychiater und macht diese Scheibenwischergeste.

      »Ja, ähm«, sage ich und räuspere mich. »Als ich das erste Mal geschlafen habe, nachdem, na ja, nachdem mein Vater gestorben war. Vor fünf Wochen.«

      »Mmhh«, summt der Psychiater. »Und Sie haben das seitdem jede Nacht?«

      »Fast jede. Und tagsüber, da … da bekomme ich so seltsame Zustände. Ich habe das Gefühl, dass sich meine … also ich fühle mich so, als ob sich meine Realität verschiebt. Das ist etwas seltsam. Alles läuft auf einmal viel langsamer ab, und ich bekomme dann so ein Kribbeln im Körper und große Angst. Weil ich glaube, ich sterbe jetzt oder ich werde verrückt. Ich bin aber nicht verrückt, ich hoffe es zumindest. Das ist mir auch in der Arbeit passiert, und deshalb kann ich auch nicht mehr dorthin … gerade.«

      Ich höre mir selbst beim Reden zu. Wie soll ich das denn erklären? Wie soll ich erklären, wie das ist, wenn man nicht mehr man selbst ist. Von heute auf morgen. Warum fühlt es sich so an, als sei ich hier bei mir in meiner eigenen Welt und er dort drüben in einer ganz anderen? Ich fühle mich wie in einem Tunnel, der viel zu eng und viel zu dunkel ist und mir diese Beschaffenheit nur erlaubt, mich Schritt für Schritt langsam zum nächsten Punkt vorzutasten. Sogar das Reden strengt mich an.

      Der Psychiater sieht mich ernst an. »Na, ein Elternteil zu verlieren, ist ein großer Einschnitt in das Leben eines Menschen, nicht? Da kann man schon einmal Depressionen oder eine Panikstörung bekommen«, sagt er ein bisschen weniger zackig.

      Ich fühle mich erkannt und abgestempelt zugleich.

      »Und, was kann ich nun für sie tun?«, fragt er und betont dabei »ich« besonders.

      Verdammt, ich weiß nicht, was ich ihm sagen kann. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er es nicht einfach wegmachen könnte, sage aber stattdessen erst einmal nichts.

      »Glauben Sie, dass ich wieder normal werde?«

      Der Psychiater lächelt jetzt ein wenig aufmunternd. »Bestimmt«, sagt er. »Aber wir sollten Sie ihm Auge behalten. Ich gebe Ihnen erst einmal Notfallmedikamente mit. Sie nennen sich Tavor und sind ein Beruhigungsmittel.«

      »Ich will keine Medikamente. Ich will das nicht«, schießt es aus mir heraus. Ich bin wütend über seinen Vorschlag. Tabletten gegen seelischen Schmerz, mir kommt das falsch vor. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Einnahme von Medikamenten ein Eingeständnis ist, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Obwohl ich natürlich eigentlich weiß, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Der Psychiater nickt. »Na, sie müssen Sie ja nicht nehmen. Es sind auch nur ein paar, denn die können abhängig machen. Also gilt hier sowieso: Vorsicht, Vorsicht!« Er wackelt mit dem Zeigefinger. »Manchmal hilft es schon, sie in der Tasche zu haben.«

      Nun nicke ich auch. Okay, für den Notfall. Ich atme tief durch.

      »Wir sehen uns nächste Woche wieder, bitte machen Sie einen Termin aus«, sagt er und erhebt sich. Ich gehe mit ihm zur Tür. Wir bleiben kurz stehen, und er sieht mir in die Augen.

      »Es wird besser«, sagt er und gibt mir zackig die Hand. »Trauer braucht viel Zeit, und es schmerzt erst einmal lange.«

      »Danke«, sage ich und bin überrascht davon, dass mich seine Worte ein wenig erwärmen.

      Ich betrete die Straße mit meinen Notfallmedikamenten in der Tasche und fühle mich ein bisschen sicherer in dieser Welt. Aber ich glaube nicht, dass es an den Medikamenten liegt. Es liegt an den letzten Worten des Psychiaters.

      »Seltsam«, denke ich. »Immer wenn jemand Verständnis dafür zeigt, was ich fühle, hilft das. Ich glaube, es ist das Spiegeln, das Verstehen, das Würdigen. Es erschafft eine Verbindung, die wie ein heilender Balsam auf meinen Zustand wirkt und mich für einen Moment Geborgenheit spüren lässt.«

      Ich bin zu viel. Viel zu viel zu viel.

      »Mein Beileid«, schreiben sie und »Mein tiefes Mitgefühl«. Manchmal sagen sie auch »Meine tiefe Anteilnahme«. Dann schreiben sie, dann sagen sie nichts mehr.

      »Danke«, antworte ich dann und spüre nicht viel. Meine Schulfreundin schreibt mir, dass gerade nichts meinen Schmerz wegmachen kann. Und sie mir Kraft zum Atmen wünscht, zum Ertragen. Und ich weine dann, weil sie sich die Zeit genommen hat, mir ein paar persönliche Zeilen zu schreiben.

      Ich spüre, dass sich viele mein altes Ich zurückwünschen. »Du kannst dich doch glücklich schätzen«, sagen sie. »Immerhin hattest du deinen Vater fast 30 Jahre. Andere verlieren ihre Eltern im Kindesalter. Was meinst du, wie schlimm das ist? Sei dankbar dafür.«

      »Ja«, antworte ich dann und fühle nichts, außer der Scham, dass ich mich nicht glücklich schätze. Ich hatte meinen Vater fast 30 Jahre, das ist wahr. Ich sollte mich glücklich schätzen. Und dann traue ich mich nicht mehr zu sagen, dass Papa doch noch nicht einmal 60 war und ich das Gefühl habe, dass mir 20 Jahre geraubt worden sind. Und ich noch so viel mit ihm erleben wollte. Dass ich mir manchmal ganz fest auf die Lippe beiße, wenn ich im Café sitze und junge Frauen mit ihren Eltern vorbeilaufen sehe. Beide Elternteile. Und sehe, dass sie ihr Enkelkind anlächeln, das sie stolz auf ein Dreirad gesetzt haben. Und ich dann nur will, dass ich das einmal, nur ein einziges Mal erleben darf. Ich denke daran, dass ich sehen wollte, wie Papa graue Haare bekommt und alt wird. Und ich doch noch einmal Urlaub mit ihm machen wollte, nur er und ich.

      »Immerhin konntest du dich verabschieden. Andere können das nicht. Was meinst du, wie schlimm das ist?«, sagen sie.

      »Ja«, antworte ich dann und denke an all die Schläuche und Papas Kotzen und dass er nicht mehr laufen konnte – und an seine letzten Atemzüge. Und es brennt im Herzen, und ich wünsche manchmal, ich hätte das nicht gesehen.

      »Dein Vater hätte nicht gewollt, dass du so traurig bist«, sagen sie.

      »Ja«, antworte ich dann, und die Scham wächst weiter. Sie wächst ins Unermessliche. Weil sogar Papa sauer auf mich wäre, würde er mich so traurig sehen.

      Ich werde mit dem Traurigsein aufhören, wirklich. Für euch, damit ihr endlich Ruhe habt von meiner Jammerei und meinen hängenden Mundwinkeln oder von meiner für euch furchtbar öden Apathie. Ihr ertragt es kaum, ich merke das. Irgendwie scheitere ich nur immer wieder daran, ich schaffe es nicht, tapfer zu sein. Das Vermissen hört nicht auf.

      Mein Wunsch, im Bett liegen zu bleiben, ist oft immer noch größer, als der, mich mit irgendjemandem oder irgendetwas auseinanderzusetzen. Ich will nur warten. Warten und heil werden.

      Ständig und überall treffe ich auf jene, die mir sagen, ich solle anders fühlen, als ich es tue. Und fühle mich aufgrund meiner Emotionen, die ich nur schwer kontrollieren kann, wie ein undankbarer Rabenmensch.

      Ich bin dann wütend – in erster Linie auf mich. Und dann auf alles andere.

      »Jetzt komm, du musst mal wieder raus. Freitagabend gehen wir in eine Bar«, sagen sie.

      »Du musst«, antworte ich mir selbst. Und gehe mit in die Bar, die laut ist, viel zu laut und anstrengend. Und eigentlich wollte ich auch diesen Freitag wieder nur heiße Milch mit Honig trinken und Menschen СКАЧАТЬ