Название: Lieber Tod, wir müssen reden
Автор: Muriel Marondel
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831269266
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Am wenigsten lustig fand ich den Moment, in dem Papa abermals festgenommen worden war, weil er mit seinen Freunden ein Auto aufgeknackt hatte. Seine Mutter kam ins Präsidium, und auf die Routinefrage, ob der Ingenieur aus Schlesien der Erzeuger meines Vaters sei, verneinte sie diese – ohne weitere Erklärung. So erfuhr mein Vater von seiner Herkunft.
Seinen leiblichen Vater traf er mit Anfang 20, und sie hielten einige Zeit Kontakt. Eine richtige Vater-Sohn-Beziehung kam aber nicht zustande, und ich vermute, der Grund, warum mein Vater irgendwann Jura studierte, hatte mit der Tatsache zu tun, dass sein leiblicher Vater Staatsanwalt war. Dieser suchte den Kontakt zu Papa viele Jahre später wieder – und so traf auch ich ihn einige Male. Eng wurde die Beziehung nie. Zu seiner Beerdigung reisten wir trotzdem. Dort lernte mein Vater seine kleine Schwester, das andere Kind seines leiblichen Vaters, kennen, die er zwar schon einmal gesehen hatte, als sie noch ein Kind war, ihr aber nicht sagen durfte, dass er ihr Bruder ist. Bis zuletzt waren sie eng miteinander verbunden.
Wie eine Seifenoper hört sich das an, denke ich. Das Leben meines Vaters war lange eine ganz schön dramatische Seifenoper.
Mit 26 traf mein Vater meine Mutter, nicht in einer Berliner Bar, sondern im Auto einer Mitfahrgelegenheit, an dessen Steuer der beste Freund meines Vaters saß. Meine Mutter war vier Jahre älter als mein Vater und hatte bereits eine zehnjährige Tochter. Sie war eine schöne Fotografin mit blonden Locken und hellblauen Augen, die im damaligen Berliner Szenebezirk rund um den Schöneberger Winterfeldplatz einen Fotoladen betrieb. Sie verliebten sich Hals über Kopf ineinander, obwohl meine Mutter gerade die Rückfahrt von ihrer eigenen Hochzeitsfeier angetreten hatte. Tja, Rock ’n’ Roll.
Meine Mutter ließ sich für meinen Vater scheiden, heiratete ihn, und sie bekamen ein Wunschkind, eine Tochter. Gemeinsam arbeiteten sie im Laden meiner Mutter, während mein Vater trotzdem versuchte, sein Jurastudium auf die Reihe zu bekommen.
»Die schönste Zeit eigentlich. Es war sehr harmonisch«, erinnert sich meine zwölf Jahre ältere Halbschwester. Bis meine Mutter ein Jahr später noch einmal schwanger wurde. Mit mir. Papa wollte das nicht wirklich. Und er gab ihr das auch zu verstehen. Aber meine Mutter war von der Idee angetan, Berlin zu verlassen und ein neues Leben im ländlichen Bayern zu beginnen. Er stimmte zu. Nicht gern, glaube ich. Und er hat diesen plötzlichen Wandel in seinem Leben auch nie wirklich überwunden. Das vermute ich zumindest. Zunächst führte er sein Jurastudium weiter und begann zeitgleich, auf dem Bau zu arbeiten. Das Geld war knapp, und so gab er sein Studium irgendwann auf und gründete seine eigene Baufirma. Die lief gut, sie bekamen einige Jahre später eine weiteres Kind. Er malte nicht mehr. Papa wurde zum Arbeitstier und Vater von vier Töchtern. Und zu der Person, mit der ich aufgewachsen bin.
Ich blicke zu den spielenden Kindern im Park, stoße einen tiefen Seufzer aus und halte meine Hand ins Sonnenlicht.
Das weiß ich von Papas Geschichte. Eine Aneinanderreihung von Erlebnissen. Natürlich habe ich Tausende Erinnerungen an ihn. Viele Tausend schöne Erinnerungen. Erinnerungen, die mir wertvoll sind. Ich weiß eben nur nicht viel über das, was in ihm wirklich vorging. Ich weiß nicht, ob mein Gefühl, dass ich besonders um seine Liebe kämpfen musste, weil ich der Grund war, dass er sein Stadtleben hatte aufgeben müssen, real war – mein Gefühl, dass zwischen uns der stille Vorwurf stand, dass sein Leben glücklicher verlaufen wäre, hätte es mich nicht gegeben.
Warum hatte ich es nicht noch einmal angesprochen, bevor er starb? Er war doch mein Vater, ich hätte ihn fragen können. Ich weiß nicht wirklich, was seine tiefsten Wünsche und Ängste waren. Seine Träume und seine Schatten. Ich habe den Menschen hinter der Figur meines Vaters nicht ergründen können.
»Vielleicht sind meine Attacken ein Bündel aus all den ungelösten Fragen, die sich nachts aus meinem Unterbewusstsein ihren Weg suchen«, denke ich plötzlich.
Mir laufen Tränen über die Wangen. Immer mehr. Die Welt vor mir verschwimmt, und ich glaube zu erahnen, dass ich nicht nur betrauere, was ich mit ihm erlebt habe. Sondern auch, was ich nicht erlebt habe, was wir nicht erleben konnten. Und nie mehr die Chance erhalten werden, es zu erleben. Mein Wunsch nach diesen Erlebnissen wird für den Rest meines Lebens unerfüllt bleiben. Und das ist so fürchterlich gemein.
Papa ist nun acht Wochen tot – Leer getrunkene Tassen
Mathis und ich sind weggefahren. Zu seiner Familie nach Südfrankreich. Einfach mal Abstand nehmen von der ganzen Schwere zu Hause. Die Attacken bekomme ich nachts immer noch.
Ich liebe das warme Licht hier, und ich liebe die Behutsamkeit, mit der Mathis’ französisch-kreolische Großfamilie an mich herantritt. Vielleicht auch, weil sie wissen, was ich fühle.
Seine Großmutter, die ich ebenfalls liebevoll »Mamie«, also »Omi« nenne, ist eine kleine Frau mit kurzen weißen Haaren und großen strahlenden Augen. Sie hat vor vielen Jahren ihre Tochter verloren, Mathis’ Tante. Von da an sind deren beiden Kinder bei Mamie und ihrem Mann aufgewachsen. Auch er starb letztes Jahr. Mamie strahlt trotzdem eine unermüdliche Lebensfreude aus. Ich wünschte mir, ich wäre eines Tages wie sie. Ich fühle mich ihr nahe, denn sie kennt die Tragik auch, die man fühlt, wenn ein Mensch viel zu früh stirbt. Ich schäme mich dann nicht so, wenn ich weinen muss.
Ich denke manchmal an meine eigene Familie und verspüre ein ziependes schlechtes Gewissen in meinem Bauch. Weil meine Mutter vielleicht gerade auch meine Nähe und Geborgenheit bräuchte. Und ich diese Kraft gerade einfach nicht aufbringen kann. Noch nicht. Mama stürzt sich in Aktivitäten, in das, »was getan werden muss«. Sie versucht, sich so von dem Schmerz abzulenken. Ich frage mich, wie das ist, nach über 30 Jahren plötzlich allein zu sein. Ich kann sie nicht trösten, ich weiß selbst nicht mal, wohin mit mir.
»Aus einer leeren Tasse ist nichts zu schöpfen«, kommt mir in den Sinn. Ich hoffe sehr, Mama nimmt es mir nicht übel.
Oma Mamie tischt jeden Tag groß auf und warnt mich jedes Mal, ich solle mit der kreolischen Schärfe ihres Essens aufpassen. Und jedes Mal versichere ich ihr, ich könne das aushalten. Die Ungläubigkeit, die im Blick der älteren kreolischen Dame liegt, darüber, dass eine Deutsche wie ich scharfes Essen so sehr liebt, bringt mich jedes Mal zum Kichern. »Das gibt es doch gar nicht!«, ruft sie dann, und ich lege noch einmal nach. Dann kichern wir gemeinsam.
Es ist seltsam zu lachen, wenn es einem eigentlich hundsmiserabel geht. Ich denke an den Heulkrampf, den ich am Vortag hatte, und dass ich mich auf dem Klo eingeschlossen habe, weil ich nicht wollte, dass mich alle 15 Anwesenden beim Abendessen bitterlich weinen sehen. Es ist ein Wechselbad, das mich müde macht. Ich bin vollkommen erschöpft von den verschiedenen Gefühlszuständen, in die mich meine Seele vom einen zum anderen Moment hineinmanövriert.
Ich habe mein Facebook-Profilbild geändert. Das Foto, das mich in einem Sonnenblumenfeld zeigt, hat Mathis von mir geschossen. Ich grinse breit. Es war ein schöner Moment, voller Intensität. Manchmal vergesse ich für einige Stunden alles.
Ist es richtig, dass ich mich so fröhlich zeige? Ich bin mir nicht sicher, СКАЧАТЬ