Über den Kopf hinaus. Werner Huemer
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Название: Über den Kopf hinaus

Автор: Werner Huemer

Издательство: Bookwire

Жанр: Математика

Серия:

isbn: 9783831257355

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СКАЧАТЬ wir mit der Mutter so eng verbunden, wie man sich das gar nicht mehr vorstellen kann – und die zweite Grunderfahrung aller Menschen heißt Wachstum, eigene Weiterentwicklung und auch Kompetenzerwerb, heißt: immer autonomer werden und auch immer freier. Deshalb suchen Menschen nach etwas, was sehr schwer zu finden ist, nämlich nach einem Zustand, nach einer Art von Beziehung, in der sie gleichzeitig verbunden sind und frei.“

      Sie haben in einem Interview einmal sinngemäß gesagt, unser Gehirn wird so, wie wir es benutzen. Gleichzeitig aber stehen Sie den Möglichkeiten, das Gehirn in einer bestimmten Art zu trainieren, wie man einen Muskel trainiert, skeptisch gegenüber und weisen eher auf die Bedeutung von Begeisterung hin, auf die Notwendigkeit, sich als Mensch für etwas einzusetzen. Warum ist dieser Impuls der Begeisterung so wichtig?

      Hüther:

      „Wir haben im vorigen Jahrhundert ja geglaubt, das menschliche Hirn würde sich gar nicht ändern, es wäre durch genetische Programme zusammengebaut, also fast wie in einer Autofabrik: Man hat Einzelteile, Nervenzellen, man hat einen Bauplan, ein genetisches Programm – und dann kriegt man ein fertiges Auto oder ein fertiges Hirn. Damit fährt man eine Zeitlang rum, bis es sich abnützt. Zuletzt kommt das Auto auf den Schrottplatz und der Mensch ins Altersheim.

      Das war ein sehr lineares Denken, das für das Leben so nicht funktionieren kann. Tatsächlich haben die Hirnforscher Ende des vergangenen Jahrhunderts mit Hilfe neuer bildgebender Verfahren viele Befunde zu Tage gefördert, die gezeigt haben: Nein, das menschliche Gehirn ändert sich – bis ins hohe Alter. Wenn der Mensch was anderes macht, bilden sich neue Netzwerke. Sie können jonglieren lernen oder ein Musikinstrument spielen – und ein halbes Jahr später kann man zeigen, dass da neue Schaltungen im Hirn entstanden sind. Allerdings hat man dann im Wahn der damaligen Zeit – dem einer Leistungsgesellschaft – geglaubt, das Hirn sei ein Muskel. Man muss es nur viel benutzen, damit es schön dick wird. Also hat man Hirntrainings verordnet.

      Alle Menschen haben sich eingebildet, sie müssen sich nur richtig anstrengen, dann wird aus ihrem Gehirn auch noch mal etwas anderes werden. Und das war wieder falsch. So funktioniert das Hirn auch nicht, es ist keine Maschine, es ist auch kein Muskel, man kann es nicht allein auf Leistung trainieren, sondern das Hirn ist ein besonderes Organ, das aufpasst, dass es mir gut geht. Deshalb hat es eine Art Sensor für Wichtigkeit. Eine Sache muss wirklich wichtig sein, und zwar nicht für die anderen, sondern für mich, dann ändert sich das Gehirn.

      Etwas wirklich Wichtiges erkennen wir daran, dass es uns unter die Haut geht, dass es uns begeistert, dass es uns interessiert, dass es uns etwas angeht. Immer, wenn das passiert, werden im Hirn bestimmte Zellgruppen aktiviert, im Mittelhirn, also tief unten, die haben wunderbare, lange Fortsätze – und immer, wenn die aktiviert werden, weil uns etwas unter die Haut geht, werden an den Enden dieser langen Fortsätze sogenannte „neuroplastische Botenstoffe“ ausgeschüttet. Die wirken tatsächlich wie Dünger auf das Netzwerk dahinter, das man im Zustand der Begeisterung so intensiv genutzt hat, zum Beispiel, um Probleme zu lösen, ein Tennisspiel zu gewinnen oder irgendetwas Schönes, Gestalterisches zustande zu bringen. Deshalb wird man bei dem, was man mit Begeisterung tut, so schnell so viel besser. Deshalb kann man sich das, was einem unter die Haut geht, auch so gut merken.

      Deshalb ist es so wichtig, dass auch in unserem Schulsystem und in den Bildungseinrichtungen endlich diese Botschaft ankommt: dass es nichts nützt, wenn man sich anstrengt, dass man sich noch so sehr anstrengen kann mit den Hausaufgaben und mit dem Auswendiglernen – das geht rein und kommt gegenüber wieder raus –, wenn es nicht wirklich unter die Haut geht, wenn es nicht gedüngt wird. Wir müssten eigentlich eine Kultur entwikkeln, in der wir uns nicht gegenseitig dauernd entgeistern, sondern wir müssten versuchen, uns ein bisschen gegenseitig zu begeistern, müssten uns einladen und inspirieren, uns noch einmal auf etwas Neues, vor allen Dingen auf etwas, was uns unter die Haut geht, einzulassen.“

       Meinen Sie, kann man Begeisterungsfähigkeit erlernen, indem man sich bewusst mit Dingen beschäftige? Oder ist die Begeisterungsfähigkeit von vornherein im Menschen angelegt?

      Hüther:

      „Das Interessante ist ja, dass sich Kinder offenbar schon mit einer unendlichen Begeisterungsfähigkeit auf den Weg machen. Kleine Kinder haben am Tag fünfzig- bis hundertmal einen Begeisterungsschub in ihrem Hirn, da wird fünfzig bis hundertmal diese Düngergießkanne mit den neuroplastischen Botenstoffen aktiviert, deshalb lernen sie auch so viel.

      So, und nun schicken wir sie in die Schule, und dann müssen sie zum Studium, und dann geht der Mensch zur Arbeit. Sie ahnen schon, was passiert … Man muss eher etwas dafür tun, dass die Begeisterungsfähigkeit nicht verschwindet. Es wäre gut, wenn sie nicht so schnell verschwinden würde! Aber natürlich kann man sie bis ins hohe Alter wieder entdecken. Aber neu produzieren braucht man sie nicht. Jeder Mensch kommt mit einem riesigen Rucksack voller Begeisterung auf die Welt, aber bedauerlicherweise wird ihm der oft leergeräumt.“

       Sie sind bekannt dafür, dass Sie Erkenntnisse aus der Gehirnforschung praktisch nutzbar machen wollen. Wie sind Sie denn auf diesen Weg gekommen? Hat es für Sie bei Ihrer Forschungsarbeit wichtige Aha-Erlebnisse gegeben?

      Hüther:

      „Ehrlich gesagt, habe ich nie geglaubt, dass man überhaupt Wissenschaft nur zum Selbstzweck betreiben könnte. Es ist mir bis heute eine ganz absurde und gruselige Vorstellung, dass es Menschen gibt, die einfach Wissenschaft betreiben um der Wissenschaft wegen. Das ist ähnlich wie Künstler um der Kunst willen Kunst machen. Ich glaube, dass wir soziale Wesen sind und auch das ganze Leben lang soziale Wesen bleiben, wenn wir nicht Pech haben und aus unseren sozialen Gemeinschaften hinausgejagt werden. Es mag Künstler gegeben haben, die ganz einsam geworden sind, weil sie keiner mehr mochte und weil sie nirgendwo mehr richtig dazugehören durften. Es mag in der Vergangenheit auch Wissenschaftler gegeben haben, die sich in die Wissenschaft geflüchtet haben, weil sie mit den Menschen nichts mehr zu tun haben wollten.

      Wir sind aber in einem viel stärkeren Maße, als wir uns das zuzugestehen bereit sind, sozial organisierte Wesen. Es gibt uns eigentlich in Einzahl gar nicht. Kein Mensch könnte, wenn er wirklich alleine aufwachsen würde, irgendetwas. Er könnte nicht nur nicht sprechen – wir brauchen da gar nicht über Lesen und Schreiben oder über die Nutzung moderner Medien reden –, der Mensch hätte auch keine Mimik und Gestik, mit der er sich verbal und nonverbal verständigen könnte. Noch nicht einmal auf zwei Beinen würden wir alleine laufen lernen, wenn nicht irgendjemand da wäre, der uns zeigte, wie das geht, wenn wir nicht unseren Eltern nacheifern würden oder älteren Kindern, die schon auf zwei Beinen gehen können. Also haben wir uns möglicherweise mit unserer sehr individualistischen Vorstellung aus dem vorigen Jahrhundert doch ziemlich geirrt. In Wirklichkeit gibt es uns als Einzelwesen gar nicht – was nicht heißen soll, dass nicht jeder von uns ein einzigartiges, soziales Wesen ist. Das ist das Besondere am Menschen: Wir bilden keine Ameisenstaaten, wo alle gleich sind, sondern wir haben über die gesamte Evolution hinweg etwas entwickelt, was uns wahrscheinlich auch die Möglichkeit geschaffen hat, die wunderbaren Kapazitäten in unserem Gehirn auszubilden. Das nennt man individualisierte Gemeinschaft. Individualisierte Gemeinschaft ist etwas anderes als die Herde, wo alle hinter einem Leit-Büffel her rennen. Es ist auch etwas anderes als ein Ameisenoder Bienenstaat, wo über Botenstoffe alle so aneinander gekettet werden, dass sie wie ein einziger Organismus reagieren. Individualisierte Gemeinschaft heißt: auf jeden kommt es an. Wenn einer was will, kann er das allen anderen mitteilen und gleichzeitig kann keiner allein irgendwo auch nur einen Tag überleben.

      Wir haben uns eingeredet, dass wir alleine leben könnten. Daraus ist eine sehr egozentrische Weltsicht geworden. Die Ergebnisse dieser bedauerlichen Entwicklung können wir heute ja überall auf der Welt besichtigen. So werden wir nicht mehr lange überleben können.“

       Was müssten wir gesellschaftsweit ändern, um eine neue Richtung einzuschlagen, Potentiale zu entfalten СКАЧАТЬ