Название: Berliner Filz
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520267
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«Weil sie die Vibrationen nicht einkalkuliert hatten, die durch die fahrenden Züge entstehen», fügte Koch hinzu. «Das hätte nicht passieren dürfen. Reichsbahner haben alles entdeckt, dann hat die Transportpolizei die Ermittlungen übernommen, und die Presse in der Zone konnte wieder einmal behaupten, der Westen habe versucht, Agenten einzuschleusen. Es gab eine große Pressekonferenz des Ministers für Verkehrswesen.»
In der folgenden Stunde ging es darum, die Aufgaben für die nächsten Wochen zu verteilen.
«Wer sorgt für gute Doppelgänger?», fragte Koch. Sie hatten vor, in West-Berlin Menschen zu finden, die DDR-Bürgern, die in den Westen wollten, ähnlich sahen, und sie um ihre Pässe zu bitten.
Das war nichts für Arys und Pandelwitz. Auch wollten sie nicht mit Bundespässen nach Ost-Berlin gehen, um dort «Deckelmänner» anzuwerben. Das waren Männer, die, nachdem jemand durch die Kanalisation geflüchtet war, die schweren Gullideckel wieder einsetzen sollten, um die Fluchtwege zu kaschieren.
Auch jemanden, der bereit war, gefälschte Pässe nach Leipzig zu bringen, suchte Koch noch, ebenso Leute für die sogenannten Skandinavien-Touren, mit denen man Menschen, die aus der DDR rauswollten, mit gefälschten Pässen die Flucht nach Dänemark ermöglichte.
Arys und Pandelwitz meldeten sich erst, als es darum ging, Löcher in die Mauer zu sprengen. Das versprach, ein echtes Abenteuer zu werden.
«Gut. Sucht euch einen Ort, wo ihr niemanden auf unserer Seite gefährdet. Wenn ihr eine geeignete Stelle gefunden habt, bekommt ihr den Sprengstoff und könnt loslegen.»
So machten sie sich in den folgenden Tagen auf und suchten nach einer geeigneten Stelle. Dabei erlebten sie so einiges. Sie befanden sich an der Bernauer Straße, als ihr Erkundungsspaziergang an der Mauer entlang eine dramatische Wendung zu nehmen schien.
«Du, Rainer, guck mal! Die beiden Grenzsoldaten da, die wollen fliehen!»
Richtig, gerade warfen zwei Grenzer ihre Maschinenpistolen weg und winkten in den Westen hinüber. Feuerwehrleute und Polizisten rannten zur Mauer, um ihnen herüberzuhelfen, bevor ihre Kameraden auf sie schießen würden. Da erscholl höhnisches Gelächter von drüben. Man hatte die West-Berliner zum Narren gehalten.
An der Ecke Ruppiner/Bernauer Straße gab es dann einen weiteren denkwürdigen Zwischenfall. Eine Besuchergruppe, die sich eindeutig auf West-Berliner Gebiet befand, hatte östliche Grenzsoldaten mit ihren spöttischen Bemerkungen offenbar so gereizt, dass diese zwei Tränengaskörper über die Mauer warfen. Einen davon schleuderte ein West-Berliner Polizist zurück, worauf einer der Grenzer aus seiner MP2 gezielte Feuerstöße auf den Beamten abgab. In wilder Panik flohen die Besucher ins westliche Hinterland, mit ihnen auch Arys und Pandelwitz.
«Deutsche, schießt nicht auf Deutsche!», schrie jemand, «Ihr Schweine, ihr!» ein anderer. Tote gab es zum Glück keine.
Immer wieder gab es Versuche von DDR-Bürgern, die Mauer mit schwerbeladenen Lastkraftwagen zu durchbrechen. Beispielsweise am 9. April an der Boyenstraße zwischen den Bezirken Wedding und Mitte, als ein mit Zement beladener Lkw in der Mauer stecken blieb. Die beiden männlichen Insassen konnten nach West-Berlin entkommen, obwohl die Grenzpolizei noch auf sie schoss.
Am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße erlebten Arys und Pandelwitz aus der Nähe, wie ein mit Kies beladener Lkw die Schlagbäume durchbrach. Man schoss auf die Fliehenden. Der Fahrer wurde tödlich getroffen, und das Fahrzeug krachte auf West-Berliner Gebiet gegen eine Hauswand. Die beiden anderen Insassen überlebten mit leichten Verletzungen.
Zwischen ihren Erkundungstouren hatten Arys und Pandelwitz noch Zeit, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund gelegentliche Besuche abzustatten. Der SHB war vor zwei Jahren als Konkurrenz zum Sozialistischen Hochschulbund, dem SDS, gegründet worden, der sich immer stärker marxistischen Positionen angenähert hatte und der DDR eine nicht unerhebliche Sympathie entgegenbrachte. Schon deshalb tendierten die beiden Studenten zum SHB. Die Mitgliedschaft bei ihm versprach aber auch gewisse Karrierechancen – in West-Berlin begann sich immer stärker ein Netzwerk herauszubilden, das später unter dem Begriff «Berliner Filz» bundesweit bekannt werden sollte. Der SHB hatte sein Domizil in der Sven-Hedin-Straße, ein paar Hundert Meter vom U-Bahnhof Krumme Lanke entfernt. Das war zwar von Hermsdorf aus eine weite Fahrt, aber sie hofften beide, ihre sporadischen Besuche würden sich irgendwann auszahlen.
An diesem Abend hatte sich zu einem Referat mit anschließender Diskussion ein Mann angesagt, der als Hoffnungsträger der Sozialdemokraten gehandelt wurde, der Baustadtrat Ralf-Werner Wolla. Der Kommilitone, der ihn eingeladen hatte, stellte ihn vor.
«Unser Genosse Ra We Wo ist 41 Jahre alt und geborener Neuköllner, einer vom Hinterhof in der Fuldastraße, der in der Rütlistraße zur Schule gegangen ist. Machen wir es kurz: Schulabschluss 1930, Maurerlehre, Soldat, französische Kriegsgefangenschaft, Heimkehr 1947, Eintritt in unsere Partei. Angefangen hat er als Kassierer, dann spezialisierte er sich darauf, älteren Jubilaren den obligatorischen Blumenstrauß vorbeizubringen und an Beerdigungen teilzunehmen.»
Wolla lachte dröhnend. «Der berühmte Kranzabwurf – ja Mensch, Kinder, ihr solltet eure Parteikarriere auch als ‹Leichenbeisitzer› im Abteilungsvorstand beginnen, das lohnt sich wirklich!»
«So bringt ihr es vielleicht auch zu einer Villa in Hermsdorf!», rief einer, der Wolla nicht leiden konnte.
«Zu einem Einfamilienhaus im nicht gerade feudalen Hermsdorf, das ich auch noch eigenhändig mit hochgemauert habe! Das ist weniger ein Palast denn eine Hütte.»
«Wie auch immer, der Genosse Wolla wird uns heute etwas zu den anstehenden Großbauprojekten in Berlin erzählen.»
«Für 1962 sind drei Großbauvorhaben geplant», begann Wolla seinen Vortrag. «Erstens das Falkenhagener Feld, Grundsteinlegung am 4. Mai. Zweitens die Gropiusstadt, Grundsteinlegung am 7. November. Und drittens die Paul-Hertz-Siedlung in Charlottenburg-Nord, Richtfest am 29. November.»
Je länger er redete, desto mehr fühlten sich Arys und Pandelwitz an die ironische Steigerung «Feind, Todfeind, Parteifreund» erinnert. Wolla wirkte wie ein eitler Pfau. Hinzu kam, dass Arys und Pandelwitz in Hermsdorf aufgewachsen waren und der gehobenen Mittelschicht angehörten. Der Vater von Arys war Werksleiter bei Siemens und die Mutter Grundschullehrerin. Pandelwitz’ Eltern waren Chefarzt und Übersetzerin. Wolla dagegen kam vom Neuköllner Hinterhof, gehörte also zu den Schmuddelkindern, mit denen man nicht spielte. So sozialistisch sich Arys und Pandelwitz auch gaben, diese Vorurteile hatten sie übernommen. Dazu kam das anarchistische Element: Sie hassten jede Art von Herrschaft. Wer sich als Anführer gerierte wie Wolla, war ihnen sogleich suspekt. Wolla geriet also sofort auf ihre Abschussliste. Für den Augenblick hieß das nicht viel, es sollte aber im Laufe des Jahres noch bedeutsam werden.
Am 21. Mai, einem Montag, war es dann so weit: Arys und Pandelwitz liehen sich in Hermsdorf von einem Freund einen Wagen aus und fuhren kurz vor Mitternacht nach Neukölln, um an der Ecke Heidelberger/Treptower Straße ihren Sprengkörper abzulegen, die Lunte zu zünden und dann das Weite zu suchen.
Am 26. Mai sprach der Regierende Bürgermeister Willy Brandt in der SFB-Reihe Wo uns der Schuh drückt über das Thema Anschläge auf die Mauer und sagte unter anderem:
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