Название: Berliner Filz
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520267
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Viel Weltbewegendes gab es nicht zu lesen. Im Gaswerk Mariendorf hatte es einen Feueralarm gegeben. Ein sogenannter Ausgleichstank war in Brand geraten, das Feuer konnte aber bald wieder gelöscht werden, obwohl sich die Feuerwehrleute wie auf einem Pulverfass gefühlt hatten.
Etwas anderes interessierte Otto Kappe mehr, und laut las er vor: «Die Polizei warnt alle Berliner Leute vor einem Trickbetrüger. Der gibt sich als Nachbar aus und borgt sich Geld.»
«Berliner Leute», wiederholte Galgenberg. «Was ist denn das für ’n Deutsch! Bin ich also kein Mensch, bin ich ein Leut?»
«Im Jiddischen sind’s die Leit, also …»
«Hier», rief Galgenberg, «das ist doch was für uns! Machtkämpfe der Mafia forderten 200 Todesopfer. Italien sagt diesen Verbrechern den Kampf an. Also auf nach Italien, mithelfen!»
«Nicht nötig, wir haben doch schon die Baumafia bei uns – und die wird bald so richtig loslegen.» Otto Kappe war schon an einem anderen Artikel hängengeblieben. «Mit Schierling vergiftet.»
«Klar, der Sokrates.»
«Nein, ein achtjähriger Junge aus Altglienicke.»
Das war tragisch, und sie schwiegen eine Weile.
Auf der Seite dreizehn wurde über die große Politik berichtet. Der Aufmacher galt der Verhaftung des ehemaligen Vizepräsidenten Jugoslawiens. Milovan Djilas: Ich mußte die Wahrheit sagen. Grund waren die Veröffentlichung seines Buches Gespräche mit Stalin und seine Enthüllungen im Zusammenhang mit dem Albanien-Problem. Daneben zeigte ein Foto, wie die persische Kaiserin Farah und Jackie Kennedy vom New Yorker Flughafen zum Weißen Haus fuhren. Wichtiger fand Otto Kappe einen kleinen Artikel links unten mit der Überschrift Stikker: Keine Lösung für Berlin in Sicht. Dirk Stikker war der Nato-Generalsekretär.
«Na endlich!», rief Galgenberg. «Erste deutsche Rakete 1965 – Im Juni 1965 wird die erste deutsche Raumforschungsrakete auf einem australischen Versuchsplatz abgeliefert. Das teilte gestern Bundesatomminister Balke in Bad Godesberg mit.»
«Da haben sie sicherlich eine alte V2 gefunden», murmelte Otto Kappe.
«Bundestag billigt Rekordhaushalt!», tönte Hans-Gert Galgenberg weiter. «Parteien: Ausgabenflut muss eingedämmt werden. 53,4 Milliarden D-Mark!»
Otto Kappe kommentierte das mit einer Überschrift aus der Lebensmittelreklame: «Mit dem Pfennig rechnen! Bei Bolle kostet die Tafel Schweizer Schokolade nur eine Mark und Marzipan-Eier pro 200 Gramm 95 Pfennige. Ja, es ostert sehr.»
Was gab es sonst noch Neues? Vier Männer hatten in Schöneberg ein Auto gestohlen und waren nach einer wilden Verfolgungsjagd, an der sich mehrere West-Berliner Funkwagen beteiligt hatten, am Kontrollpunkt Heerstraße gegen einen Schlagbaum geprallt. Ein sowjetischer Hubschrauberpilot hatte die Orientierung verloren und war im westlichen Staaken gelandet. Und genau vor der Gedächtniskirche hatte ein Pony, das vor einen Lumpenwagen gespannt war, ein gesundes Fohlen zur Welt gebracht. Bis zur Fußballweltmeisterschaft in Chile waren es noch 47 Tage, und die deutsche Mannschaft hatte in einem Vorbereitungsspiel Uruguay mit 3 : 0 geschlagen. Das Wetter: sonnig, plus sechzehn Grad. Der Fernsehabend versprach einigen Spaß, denn es gab Die Familie Hesselbach.
Das Telefon riss sie ins Berufsleben zurück. Otto Kappe nahm regelrecht Haltung an, denn es war ihr Vorgesetzter.
«Kappe, in Hermsdorf draußen, in der Fellbacher Straße, der früheren Kaiserstraße, gleich am Bahnhof, ist auf einen Mann geschossen worden. Der Kollege Mannhardt sollte das übernehmen, aber der ist krank geworden, nun machen Sie und der Galgenberg das mal!»
«Selbstverständlich.»
Otto Kappe besorgte sich das vorliegende Material, dann machten sie sich in seinem VW Käfer auf den Weg. Bald kamen sie auf die Entlastungsstraße, die man in West-Berlin mit einer Länge von 1,2 Kilometern in nur 44 Tagen angelegt hatte, da man nach dem Mauerbau ja nicht mehr durch Ost-Berlin fahren konnte. Der Bezirk Mitte, der zum sowjetischen Sektor gehörte, ragte wie ein Keil weit nach West-Berlin hinein und zwang einen zu erheblichen Umwegen, wollte man zum Beispiel von Neukölln nach Tegel.
Obwohl die Notwendigkeit der Entlastungsstraße unumstritten war, meckerten viele West-Berliner, so auch Galgenberg. «Ich kann mich immer noch nicht damit abfinden, dass diese blöde Straße unseren schönen Tiergarten in zwei Teile zerschneidet!»
«Beschwer dich bei Walter Ulbricht!», erwiderte Otto Kappe und fügte mit der Fistelstimme des Sachsen hinzu: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.»
Sie kamen in den Wedding und damit vom britischen in den französischen Sektor. Es ging die ewig lange Müllerstraße hinunter. Endlich hatten sie den Kurt-Schumacher-Platz erreicht. Nun waren die Scharnweber- und die Seidelstraße zu bewältigen.
«Wer war Scharnweber?», fragte Otto Kappe, der manchmal etwas von einem Oberlehrer an sich hatte.
Galgenberg lachte auf. «Keine Ahnung. Und dass ich das nicht weiß, hat mich auch nie sonderlich gestört.»
Otto Kappe ließ sich nicht beirren. «Scharnweber war Jurist und Geheimer Regierungsrat, der sich insbesondere für den Straßenbau im Niederbarnim eingesetzt hat.»
«Ich hätte eher gedacht, dass der den Knast hier in Tegel gebaut hat», sagte Galgenberg, als der rote Backsteinkomplex des Strafgefängnisses links vor ihnen auftauchte.
Otto Kappe lachte. «Nee, das war der nicht. Außerdem sind wir hier schon auf der Seidelstraße. Ich weiß nur, dass der Hauptmann von Köpenick und Carl von Ossietzky hier einmal eingesessen haben.»
«Und wie vielen Mördern und Totschlägern haben die Kappes, also du und dein Onkel, schon einen Aufenthalt in Tegel verschafft?»
«Keine Ahnung. Aber ein paar Dutzend waren es allemal.»
Bald erreichten sie das Dominikus-Krankenhaus, wo sie sich zu Hans-Peter Habedank durchfragten, zu dem Mann, auf den in der Fellbacher Straße geschossen worden war. Eine Kugel war in dessen rechtem Oberschenkel stecken geblieben, eine andere hatte seine Brust auf Höhe des Herzens gestreift.
«Ich hätte auch tot sein können», stellte Habedank fest.
Galgenberg lachte. «Genügend Trefferfläche haben Sie dem Täter ja geboten.»
Das bezog sich darauf, dass Habedank ein kugelrundes Männchen war, Lehrer für Chemie und Physik an einem Tegeler Gymnasium.
«Ihr Beruf legt folgende Arbeitshypothese nahe», begann Otto Kappe das Gespräch in einer betont gehobenen Ausdrucksweise. «Haben Sie vielleicht einmal einen Ihrer Schüler mit einer Fünf bedacht, der sich dadurch ungerecht behandelt fühlte?»
«Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach», bekannte Habedank. «Aber mir ist niemand eingefallen.»
«Haben Sie vielleicht irgendwelche Neider?», wollte Galgenberg wissen.
Der Oberstudienrat überlegte nicht lange. «Nun, wenn ich jemanden beim Schach besiege, wird er nicht gleich auf mich schießen.»
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