Название: Berliner Filz
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520267
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Heute nun, am Ostersonnabend, ließ er Arbeit Arbeit sein und fuhr mit seinen Freunden Manne und Rudi in der überfüllten U-Bahn ins Olympiastadion raus, um das Spiel von Tasmania 1900 gegen den 1. FC Nürnberg mitzuerleben. Die Karten hatte ihnen sein Chef spendiert. Rudolf Orkusch selbst war in sein Ferienhaus nach Vietze im Wendland gefahren. Solch ein Haus auf dem Land wurde bei den Neureichen in West-Berlin langsam Mode.
Aufgrund der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft in Chile wurde die Vorrunde nur in vereinfachter Form ausgetragen. Jede Mannschaft hatte ein Heimspiel, ein Auswärtsspiel und ein drittes Spiel an einem neutralen Ort.
«Nürnberch, det is schon wat», stellte Manne fest.
«Ja, aba nur, weil die den Morlock ham. Wenn de den kaltstellst, haste schon jewonn’n.»
«Der Strehl is aba ooch nich schlecht.»
Karl-Heinz Kappe gefiel es am besten, dass die Nürnberger einen Verteidiger mit Namen Derbfuß hatten. Viel Spaß aber hatten sie als Berliner nicht, denn Tasmania 1900 sollte am Ende mit 1 : 2 verlieren. Auf dem Nachhauseweg stieß Karl-Heinz Kappe auf dem Olympischen Platz mit einem Mann zusammen, den er dort nicht vermutet hätte: dem Bausenator Arnulf Klaffenbach.
«Sie hier?», staunte er.
«Ich bin nur hier, um die Bausubstanz des Olympiastadions zu kontrollieren.»
Karl-Heinz Kappe fand Klaffenbach einen komischen Vogel. Er wusste so einiges über ihn. Klaffenbach war geborener Berliner und 47 Jahre alt. Der Vater Arthur Klaffenbach war Philosophieprofessor, die Mutter Isolde Oberstudienrätin für Deutsch und Latein. Nach dem Abitur hatte der Sohn Kunstgeschichte und Architektur studiert. Verheiratet war er auch, Hannelore hieß die Glückliche mit Vornamen, drei Kinder hatten sie: Bernhard, geboren 1944, Beate, Jahrgang 1946, und Friedhelm, der 1950 das Licht der Welt erblickt hatte. Arnulf Klaffenbach war hochgewachsen und sehr sensibel, spielte Cello und schrieb Gedichte. Eines davon hatte sogar im Berliner Tagesspiegel gestanden, Karl-Heinz Kappe hatte es ausgeschnitten.
Heutungen
Morgen ist Heute
Gestern ist Heute
Es gibt kein Morgen mehr
Es gibt kein Gestern mehr
Darum lebe Du
Heute heute heute
und
Häute Dich
Warum interessierte Karl-Heinz Kappe das alles? Er ging davon aus, dass alle Menschen käuflich waren, und wenn er jemanden kaufen wollte, dann war es immer gut, alles über ihn zu wissen.
Rund vierzehn Tage später sah er Arnulf Klaffenbach wieder. Das war am 4. Mai 1962, als sich ganz West-Berlin auf dem Falkenhagener Feld zur Grundsteinlegung traf. Das Falkenhagener Feld, das westlich der Spandauer Altstadt gelegen war, wurde noch für die innerstädtische Landwirtschaft genutzt und war außerdem reich mit Schrebergärten und den dazugehörigen Lauben bestückt. Hier sollte nun aufgrund der Wohnungsnot in West-Berlin links und rechts der Falkenseer Chaussee eine der drei geplanten Großsiedlungen entstehen. Man hatte sogar vor, sie mit einer U-Bahn-Linie an die Innenstadt anzubinden. Das betonte Klaffenbach jedenfalls in seiner Rede.
Karl-Heinz Kappe war aber nicht in den äußersten Zipfel Spandaus gekommen, um den Senator zu hören, sondern um mit Baustadtrat Ralf-Werner Wolla zu reden. Die SBN brauchte dringend ein paar neue Aufträge.
«Ihr Haus in Hermsdorf, Herr Wolla, könnte durchaus einen preiswerten Anbau vertragen …»
Wer gut schmiert, der gut fährt. Karl-Heinz Kappe wusste, wie die Welt funktionierte.
DREI
DIE FREIE UNIVERSITÄT BERLIN war die Antwort des Westens auf die Übernahme der alten Berliner Universität Unter den Linden durch die Kommunisten Anfang 1948. Der Lehrbetrieb wurde am 15. November 1948 in Gebäuden der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Dahlem aufgenommen. Im Umkreis des Hauptgebäudes der FU, des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie, mietete man nun für die einzelnen Institute etliche Villen an. Zudem wurden die Mensa, verschiedene Fakultätsgebäude und der Henry-Ford-Bau mit dem Audimax und der Bibliothek neu errichtet.
Auf einer der Bänke zwischen der Juristischen Fakultät in der Van’t-Hoff-Straße und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Garystraße hatten zwei Studenten des dritten Semesters in der Maiensonne Platz genommen: Rainer Arys und Wilhelm Pandelwitz. Sie hatten schon im Buddelkasten miteinander gespielt, da ihre Elternhäuser am Hermsdorfer Klosterheider Weg aneinandergrenzten. Beide waren süchtig nach Karl May und hatten sich ewige Blutsbrüderschaft geschworen. Außenstehende hielten sie für homosexuell, aber das waren sie nicht, sie hatten lediglich Angst, sich in ein und dieselbe Frau zu verlieben.
Vom Körperbau und ihren Interessen her unterschieden sie sich gehörig. Rainer Arys war der untersetzte, muskulöse Typ, lief die hundert Meter beim SC Tegeler Forst in 11,3 Sekunden, während man Willy Pandelwitz, der die klassische Musik mehr liebte als den Sport, in früheren Zeiten wohl gemäß der Kretschmer’schen Typologie als Leptosomen bezeichnet hätte.
Selbstverständlich hatten sie in der Schule von der ersten Klasse bis zum Abitur im März 1961 an der Hermsdorfer Georg-Herwegh-Schule immer nebeneinandergesessen. Jetzt studierten sie beide an der Fakultät der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der FU, Rainer Arys hatte als Hauptfach Soziologie, Willy Pandelwitz Politologie. Allzu viele Lehrveranstaltungen jedoch besuchten sie nicht, denn zum einen war es vom hohen Norden, sprich Hermsdorf, bis in den tiefen Süden zur FU fast schon eine Weltreise, und zum anderen ließ ihnen ihr Engagement in einer ganz bestimmten studentischen Organisation nicht viel Zeit. Es handelte sich um die Gruppe Koch, die sich auf Fluchthilfe und Anschläge gegen die Mauer spezialisiert hatte. Politisch standen sie, zum Leidwesen ihrer Eltern, der Brandt’schen SPD nahe und waren auch Mitglieder des Sozialdemokratischen Hochschulbundes, des SHB, der sich im heftigen ideologischen Konflikt mit dem SDS befand, dem Sozialistischen Hochschulbund, dessen zunehmend gesellschaftskritisch-antikapitalistische Haltung sie ablehnten.
Heute aber sollte erst einmal studiert werden. Zuerst ging es zur Vorlesung Einführung in die Organisationssoziologie von Renate Mayntz in den mittelgroßen Hörsaal 104. Sie erwarteten eine ergraute akademische Oberrätin um die sechzig und waren in höchstem Maße erstaunt, als eine mehr als ansehnliche junge Frau, die vielleicht gerade die dreißig überschritten hatte, ans Katheder trat. Sie hatte einige Jahre an der Columbia University verbracht und referierte nun ausführlich über die recent trends ihrer Wissenschaft. Das war nicht uninteressant, dennoch folgten Pandelwitz und Arys der Vorlesung nicht sonderlich aufmerksam, denn alles war in einem rororo-Bändchen der Mayntz nachzulesen.
Danach begannen des Tages Mühen erst so richtig, denn sie hatten im Proseminar von Prof. Otto Stammer ein Referat über Frühe Anarchisten in Berlin zu halten. Statt fand alles in einem der kleineren Hörsäle der WiSo-Fakultät, deren breite Fenster auf die kaum befahrene Garystraße hinausgingen. Bei etwa zwanzig Teilnehmern herrschte hier eine geradezu intime und gemütliche Atmosphäre, von der unaufhaltsam heraufziehenden Massenuniversität war noch nicht viel zu bemerken.
Otto Stammer, der 1900 in Leipzig das Licht der Welt erblickt hatte, war ein höchst interessanter Mann. СКАЧАТЬ