Berliner Filz. Horst Bosetzky
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Berliner Filz - Horst Bosetzky страница 6

Название: Berliner Filz

Автор: Horst Bosetzky

Издательство: Автор

Жанр: Исторические детективы

Серия:

isbn: 9783955520267

isbn:

СКАЧАТЬ angebrochen, aber niemand kannte ja Tag noch Stunde.

      Er schlenderte jetzt auf der südlichen Seite des Parks entlang und kam an der Kufsteiner Straße dicht am RIAS vorbei, einer der heiligen Kühe der West-Berliner. Seine Sendungen waren ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens geworden, ob es nun montags die Schlager der Woche waren oder die legendäre Krimireihe Es geschah in Berlin von Werner Brink. Es war ein Ritual, jeden Sonntag um Viertel vor elf Friedrich Luft mit seiner Stimme der Kritik und anschließend das Geläut der Freiheitsglocke zu hören. Aber auch andere Sendungen bestimmten den Alltag, so Berlin spricht zur Zone, Damals war’s, Geschichten aus dem alten Berlin, Die Rückblende, Kutte kennt sich aus, Onkel Tobias, Wer fragt, gewinnt mit Hans Rosenthal, Wo uns der Schuh drückt mit dem jeweiligen Regierenden Bürgermeister und natürlich Die Insulaner. Deren Lieder hatte er ständig im Ohr. Edith Schollwer sang das Insulanerlied. Er kannte sie alle: Günter Neumann schrieb die Texte, Bruno Fritz war der Herr Kummer, Joe Furtner der Professor Quatschnie, Walter Gross der Jenosse Funzionär, Tatjana Sais und Agnes Windeck gaben die Klatschdamen vom Kurfürstendamm.

      Hermann Kappe schlenderte weiter und kam zum Vorplatz des Rathauses Schöneberg, des Sitzes des West-Berliner Parlaments und des Regierenden Bürgermeisters. Willy Brandt war das jetzt seit 1957 – ein Glücksfall für West-Berlin. Auf dem Posten hatten sie ja anfangs den charismatischen Ernst Reuter gehabt («Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!»), dann aber mit Walther Schreiber eine ziemliche Null. Otto Suhr, der ihm nachgefolgt war, hatte auch keine Bäume ausgerissen. Beim Blick zum Rathausturm hinauf hörte Hermann Kappe ganz automatisch die Freiheitsglocke läuten und die sonore, gottähnliche Stimme im RIAS: Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde des einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden.

      Mit diesen hehren Worten im Kopf kehrte Hermann Kappe über die Martin-Luther-Straße nach Hause zurück. An die fünf Kilometer mochten es gewesen sein, die er zurückgelegt hatte. Er sank erst einmal aufs Sofa und schlief kurz danach ein.

      Zum Kaffee kam Otto mit Gertrud vorbei. Hermann Kappe konnte ein Gefühl des Neids nicht ganz unterdrücken. Der Neffe war gerade einmal 51 Jahre alt, stand noch voll im Saft und hatte jede Menge interessanter Fälle zu bearbeiten.

      «Was liegt denn gerade an bei euch?», lautete dann auch die erste Frage, kaum dass der Neffe Platz genommen hatte.

      Otto Kappe hätte lieber über Fußball oder die Familie geredet. «Nicht viel. Nur die Schüsse auf diesen Studienrat oben in Hermsdorf, Hans-Peter Habedank. Bislang haben wir keine Spur.»

      Wie gerne hätte Hermann Kappe jetzt gehört, dass man ohne ihn hilflos sei, doch Otto ließ nichts dergleichen verlauten.

      Auch Hertha Börnicke, Hermanns Cousine, kam zum Kaffee. Sie hatte Multiple Sklerose und ging am Stock. Schließlich erschien noch Peter, Otto und Gertrud Kappes einziger Sohn. Er studierte jetzt an der FU Psychologie.

      «Seelenklempner will er also werden», hatte Hermann Kappe gebrummt, als Otto ihm davon erzählte. «Na, soll er … Dann kann er sich wenigstens selber therapieren.»

      «Wenn das in Deutschland so weitergeht, müssen wir alle in die Therapie», hatte sein Neffe dagegengehalten. «Erster Weltkrieg, NS-Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Spaltung Deutschlands, Berlin-Blockade und jetzt der Mauerbau – da müssen wir ja alle ’ne Macke kriegen!»

      Dann beredeten sie Familiäres. Was Hermann Kappes Bruder Albert in Wendisch Rietz und sein ältester Sohn Hartmut in Ost-Berlin wohl machten? Sie zu besuchen war ja ein Ding der Unmöglichkeit.

      «Im Osten nichts Neues.» Hertha Börnicke, die früher beim RIAS gewesen war und aus der Zone berichtet hatte, wusste noch immer bestens Bescheid über das, was in der DDR so geschah. «In Ost-Berlin soll es eine Ruhrepidemie gegeben haben, und die Nationale Front hat ein ‹Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschland und ihrer Veränderungen› gegründet.»

      «Das haut ja den stärksten Eskimo vom Schlitten!», rief Otto Kappe. «Mehr ist da nicht los?»

      «Da musst du schon Hartmut fragen. Was bei der Kripo so an großen Fällen anliegt, muss der ja am besten wissen.»

      «Nie was vom Kontaktverbot gehört?»

      «Doch. Das ist ja der Witz daran.»

      Auf dieses Stichwort hin erzählten sie sich nun die gängigen DDR-Witze.

      Hertha Börnicke machte den Beginn. «‹Du, Schatz, ich lese hier gerade: Die DDR gehört zu den zehn führenden Industrienationen der Welt. Ich glaube, das schreibe ich mal unserem Onkel Herbert in Düsseldorf.› – ‹Klar, mach das … Dann kannst du ihn auch gleich bitten, zu Ostern ein paar Rollen Klopapier mitzuschicken.›»

      Hermann Kappe war der Nächste. «Ein treues SED-Parteimitglied kehrt von einer Dienstreise aus der Bundesrepublik zurück. Sein Vorsitzender fragt ihn: ‹Na Genosse, haben Sie den faulenden und sterbenden Kapitalismus gesehen?› – ‹Ja.› – ‹Und was halten Sie davon?› – Die Antwort kommt mit verklärtem Gesichtsausdruck: ‹Es ist ein sehr schöner Tod …›»

      Auch Otto Kappe wollte sich nicht lumpen lassen. «Ein DDR-Bürger geht spät in der Nacht durch Ost-Berlin und ruft lauthals immer wieder: ‹Scheißstaat, Scheißregierung!› Sofort taucht ein Stasi-Offizier auf und verhaftet ihn. Der Verhaftete verteidigt sich: ‹Ich habe ja gar nicht gesagt, welchen Scheißstaat und welche Scheißregierung ich meine.› Der Stasi-Offizier denkt kurz nach und lässt den Mann wieder laufen. Der verschwindet, wird aber zwei Minuten später von dem Stasi-Offizier wieder eingeholt und erneut verhaftet. Darauf der Mann: ‹Warum denn das?› Entgegnet der Stasi-Mensch: ‹Es gibt ja nur einen Scheißstaat und eine Scheißregierung.›»

      Peter Kappe wollte sich nicht an der Diskriminierung der DDR und ihrer Bürger beteiligen, hatte aber bei Freud etwas über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten gelesen. «Freud spricht von der Euphorie des spontanen Lachens und erkennt darin einen Widerschein unseres vergangenen Kinderglücks, denn der Witz erlaubt es uns, uns für Augenblicke vom Verdrängungsdruck der Kultur zu befreien.»

      Alle nickten schwer beeindruckt von seinen frischerworbenen Erkenntnissen.

      «Wer liegt auf dem Friedhof neben Freud?», fragte Hermann Kappe seinen gebildeten Großneffen.

      «Keine Ahnung.»

      «Na, Leid. Denn Freud und Leid liegen doch dicht beieinander.»

      Klara fiel kein DDR-Witz ein, worauf Hertha Börnicke alles glasklar analysierte. «Der eingemauerte West-Berliner gewinnt seine Identität und seinen Überlebenswillen nicht zuletzt dadurch, dass er über alles, was in der Ostzone passiert, spöttisch herzieht.»

      Otto Kappe klatschte ihr Beifall. «Mensch, Hertha, was wären wir ohne dich!»

      Hermann Kappe setzte noch einen drauf. «Lieber Hertha Börnicke als Hertha BSC.» Den Verein sah er schon absteigen, wenn es diesen Sommer mit der Bundesliga losging. «Ich hätte lieber Tasmania 1900 in der Bundesliga gesehen.»

      «Deine Tasmanen spielen ja nächste Woche gegen den 1. FC Nürnberg in der Vorrunde um die Deutsche Meisterschaft», sagte Klara. Karl-Heinz, ihr jüngerer Sohn, wolle auch hingehen.

      Karl-Heinz Kappe, nun auch schon 35 Jahre alt, war ein windiger Bursche geblieben, obwohl er es bei der SBN, der Südost Bau Neukölln, bis zum Prokuristen СКАЧАТЬ