Название: Berliner Filz
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520267
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«Wir werden uns in der Fellbacher Straße einmal umhören, ob ein Verdächtiger beobachtet worden ist, und dann bei allen psychiatrischen Kliniken anrufen.»
Hermann Kappe verfluchte Gottes Schöpfung. Was blieb ihm mit seinen 74 Jahren noch anderes, als auf die nächste Krankheit, das Altersheim und den Tod zu warten? Noch immer kam er mit dem Ruhestand überhaupt nicht klar. Und seine Frau nicht mit ihm.
«Leg dir doch endlich ein Hobby zu, das deine Zeit ausfüllt!», mahnte sie ihn immer wieder.
«Was denn? Mein einziges Hobby war die Verbrecherjagd!» Jetzt konnte er nur noch die Mehlmotten in der Küche jagen.
Klara hatte eine Reihe von Vorschlägen. «Tu das, was andere Männer nach der Pensionierung auch tun! Die sammeln Briefmarken oder basteln den ganzen Tag an ihrer Modellbahn herum und freuen sich darüber, dass ihre Züge immer im Kreis fahren.»
«Soll ich also auch einen fahren lassen?»
«Wehe! Du weißt, wie geruchsempfindlich ich bin.»
«Eben.»
«Oder sieh zu, dass wir irgendwo in einer Kleingartenkolonie ein Stück Land pachten – dann kannst du den ganzen Tag Rasen mähen und Hecken beschneiden.»
«Ja, wie hat Gustav Galgenberg immer gesagt? Wer Gott vertraut und Bretter klaut, der hat ’ne schöne Laube.» Der alte Weggenosse fehlte ihm mächtig. «Nun ist er leider schon eine Weile tot.»
«So hat er wenigstens den Mauerbau nicht miterleben müssen», sagte Klara.
Hermann Kappe wandte sich wieder der Zeitung zu, die er jeden Morgen zu lesen pflegte. Auf der Seite sechzehn erfreute ihn eine junge Dame im Turnanzug. Turne dich schlank mit Debbie Drake. Das erinnerte ihn an John Drake. Geheimauftrag für John Drake hieß die TV-Serie, die er gerne sah. So wie Patrick McGoohan, der Held der Serie, hätte er früher auch gern einmal ausgesehen. Fast eine ganze Seite hatten sie dem Eislaufen gewidmet. Sonja Henies Triumph in Hollywood lautete die Überschrift. Er blätterte weiter, denn er hatte die Norwegerin nie gemocht, auch wenn sie dreimal bei den Olympischen Winterspielen eine Goldmedaille gewonnen hatte.
«Was gibt’s denn Neues?», wollte Klara wissen.
«Jetzt nach Spanien – Ferien an der Costa Brava.»
«Das sollten wir auch mal machen.»
«Mir wäre Wendisch Rietz lieber», brummte Hermann Kappe. «Hier, das wäre doch was für uns: Privatzimmer melden! – Der diesjährige Osterverkehr dürfte alle Rekorde schlagen. Um für den Fall der Fälle eine Reserve zu haben, wendet sich das Verkehrsamt an die Berliner: Melden Sie bitte geeignete Ein- und Zweibettzimmer! Wir können doch die Kammer ausräumen, ein Bett reinstellen und uns ein paar Pfennige dazuverdienen. Vielleicht kommen interessante Leute.»
«Ja, vielleicht Debbie Drake persönlich. Nur über meine Leiche!»
«Warum nicht, ich habe schon lange keine mehr gesehen.»
«Hör auf!» Sie warf eine zusammengeknüllte Serviette nach ihm.
«Oh», rief Hermann Kappe, «das wird Otto weniger freuen: Selbstmordversuch in der Zelle.» Im Polizeigefängnis in der Gothaer Straße hatte sich ein 21-Jähriger, der an einem brutalen Überfall auf eine Tabakwarenhändlerin beteiligt gewesen war, das Leben nehmen wollen. Mit einer Scherbe hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten.
«Gibt’s nicht auch was Erfreuliches?», fragte Klara.
«Sicher: Adenauer wieder in Cadenabbia.» Noch immer war der Mann Bundeskanzler. «Drei Raubüberfälle in Schöneberg. Na, das ist ja auch nicht sonderlich erfreulich.»
«Was gibt’s denn abends im Fernsehen?»
«Im ersten Programm Wallenstein mit Wilhelm Borchert in der Titelrolle.»
«Und im zweiten Programm?»
«Um Viertel nach acht Panorama.»
«O Gott, da zählen sie auch nur wieder alles auf, was angeblich mies ist bei uns!»
Der Sportteil war auch nicht gerade aufregend. Bei der Deutschland-Rundfahrt war Hennes Junkermann in der Rhön geschlagen worden. Hertha BSC hatte im Qualifikationsspiel nach einem 1 : 1 gegen den 1. FC Kaiserslautern die Intertoto-Runde verpasst, weil das Los für die Pfälzer entschieden hatte.
Nach dem Frühstück ging Hermann Kappe erst einmal spazieren. Er empfand seine Wohnung zunehmend als Gefängnis. Gott sei Dank war er noch gut zu Fuß. Viele seiner Altersgenossen saßen schon im Rollstuhl oder gingen zumindest am Stock. Seine Route war immer dieselbe. Ein paar hundert Meter ging er, nachdem er aus dem Haus getreten war, die Wartburgstraße entlang, dann bog er ab in die Berchtesgadener Straße. Schon allein der Straßenname löste angenehme Gedanken in ihm aus: an den Watzmann, den Königssee. Klara liebte das Meer, er die Berge. Den nächsten Urlaub wollten sie in Berchtesgaden verbringen.
Er kam auf die Grunewaldstraße und ging Richtung Bayerischer Platz. Ein ziemlich leerer Zug der Linie 3 ratterte an ihm vorbei. Die Straßenbahn wollten sie in West-Berlin völlig abschaffen, um eine autogerechte Stadt zu schaffen. Je näher er dem Bayerischen Platz kam, an desto mehr frei geräumten Trümmergrundstücken ging er vorbei. Zwischendurch erblickte er auch einige kastenförmige Neubauten. «Berlin baut auf!», so hatte es gleich nach dem Krieg geheißen. Am Bayerischen Platz standen die prunkvollen alten Mietshäuser nur noch auf der westlichen Seite. Gott, musste das vor dem Krieg hier schön ausgesehen haben! Er stieg zur U-Bahn hinunter. Nicht um zum Innsbrucker Platz zu fahren, sondern nur, um die herrliche Architektur zu genießen. 1910 war der Bahnhof eröffnet worden. In diesem Jahr war er aus Wendisch Rietz nach Berlin gekommen. Er konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Damals war Schöneberg noch eine selbstständige Gemeinde gewesen, viel wohlhabender als Berlin. Ein halbes Jahrhundert war das nun schon her. Unfassbar!
Er stieg wieder ans Tageslicht hinauf und lief nun die Innsbrucker Straße Richtung Süden entlang, immer auf dem Rücken der U-Bahn sozusagen. Er hatte noch die Fotos im Gedächtnis, auf denen die Tunneldecke von Bomben weggesprengt worden war und es deshalb so aussah, als würden die gelben Züge in einer Rinne fahren. Er kreuzte erst die heimatliche Wartburg-, dann die Badensche Straße, wo er einen Doppeldeckerbus vorüberlassen musste. Es war der 4er zum Brixplatz im noblen Westend. Vor ihm erstreckte sich nun in einer alten eiszeitlichen Rinne der Wilmersdorfer Volkspark. Die U-Bahn wurde auf einer Art Brücke über diese Mulde hinweggeführt, und unter dieser Brücke lag der U-Bahnhof Rathaus Schöneberg, der bis 1951 den Namen Stadtpark getragen hatte. Hermann Kappe spazierte jetzt auf breiten Parkwegen. Obwohl ihm das als hochgradig albern erschien, hielt er ständig nach einer Leiche im Gebüsch Ausschau. Die Kommentare in den Zeitungen wären großartig gewesen: Seine Spürnase ließ ihn auch viele Jahre nach der Pensionierung nicht im Stich.
Er überquerte die ehemalige Kaiserallee, nun in Bundesallee umbenannt. Die kannte er schon aus Kästners Emil und die Detektive. Vielleicht war es Kästner gewesen, der in ihm früh den Wunsch geweckt hatte, einmal zur Kripo zu gehen. Am Fußballplatz, kurz vor der Blissestraße, machte er halt, um den Spielern des 1. FC Wilmersdorf einen Augenblick lang zuzusehen. Dabei versuchte er sich daran zu erinnern, ob er in seiner Zeit bei Viktoria 89 einmal hier gespielt hatte, СКАЧАТЬ