Название: Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms
Автор: Melissa C. Feurer
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная классика
isbn: 9783961400911
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Aus dem sicheren Versteck hinter den Büschen beobachtete sie, wie ein glatzköpfiger Mann ausstieg und pfeifend den Laderaum öffnete. Er verschwand in dessen Innerem und schleppte bald darauf einen Stapel Holzkisten die Laderampe hinunter. Durch die Lücken zwischen den Latten konnte Mira silberne Dosen erkennen. Konserve an Konserve stapelten sich Lebensmittel in den Kisten.
Wenigstens das konnte sie tun. Chas würde all seine Kräfte für den Transport zum Gesundheitszentrum brauchen. Und Mira auch, denn wenn sein Zustand sich nicht auf wundersame Weise verbessert hatte, würde sie ihn wieder mehr tragen als stützen müssen. Ihnen beiden würde eine richtige Mahlzeit guttun.
Mira wartete, bis der Glatzköpfige mit den Kisten sein Armband gescannt hatte und durch den Lieferanteneingang verschwunden war. Noch während sich die Türen hinter ihm schlossen, schoss sie aus ihrem Versteck und geradewegs auf den weißen Lieferwagen zu. An den offenen Türen schlug ihr der berauschende Duft frischen Brotes entgegen. Schwindlig vom bloßen Gedanken daran, kletterte sie in den Laderaum.
Der schmale Durchgang war mit deckenhoch gestapelten Kisten und Boxen gesäumt. Und auf jeder einzelnen klebten Etiketten, deren Aufschrift Miras Magen zum Knurren brachte: „Eingelegte Pfirsiche“, „Laugengebäck“, „Essiggurken“, „Marmelade + Apfelmus“, „Fruchtsaft“, „Mehl“, „Zucker“ und „Räucherschinken“.
Mira zwängte sich zwischen die Stapel aus verpackten Lebensmitteln und riss den erstbesten Karton auf. Er war bis zum Rand mit kleinen Papiertütchen voller Milchpulver gefüllt. Mira griff mit beiden Händen hinein und stopfte sich ein gutes Dutzend davon in die Hosentaschen, ehe sie den nächsten Karton öffnete. Und dann den nächsten. Sie belud ihre Arme mit allem, dessen sie habhaft werden konnte: Konserven mit Bohnen, Pfirsiche und Brot − es war ihr egal, ob irgendetwas davon zusammenpasste.
Als sie beim besten Willen nicht mehr tragen konnte, erschrak Mira vor sich selbst. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Hunger einem Menschen zusetzen konnte. Aber nach Tagen mit nichts oder kaum etwas im Magen waren ihr beim Anblick des vielen Essens sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte wie im Rausch Lebensmittel zusammengerafft und gar nicht auf die Zeit geachtet, die sie sich schon im Inneren des Lieferwagens befand.
Draußen schepperte es. Vor Schreck ließ Mira beinahe ihre Beute fallen.
„Der Rest kommt nach hinten in Lagerraum 3. Fahr rein!“, brüllte eine Männerstimme draußen, und zu Miras Entsetzen näherten sich nur einen Augenblick später knirschende Schritte. Sie wich an die Wand hinter ihrem Rücken zurück, so tief in eine der Lücken zwischen den Kistenstapeln wie nur irgendwie möglich. Aber die Tür am Ende des Lieferwagens hatte sie nach wie vor im Blick. Der Glatzköpfige erschien zwischen den offenen Türflügeln. Mira hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sie einfach nicht sehen. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er es nicht tat.
Der Glatzkopf kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann griff er mit beiden Händen nach den Türen und zog sie mit einem heftigen Ruck zu.
Dunkelheit und Stille umhüllten Mira. Ihr eigener Herzschlag kam ihr unnatürlich laut vor, und sie wagte nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Draußen schepperte es wieder, und mit einem sanften Vibrieren erwachte der Lieferwagen unter ihr zum Leben und setzte sich fühlbar in Bewegung.
Endlich fiel die Starre von Mira ab. Lauter, als es vermutlich klug war, ließ sie die gesammelten Lebensmittel in eine der aufgerissenen Kisten sinken. Möglicherweise konnte sie die Türen von innen öffnen und entkommen. Vielleicht …
Mira hielt in der Bewegung inne, als die Erkenntnis durch die Panik zu ihr hindurchsickerte: Sie steckte nicht in der Falle. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie befand sich auch auf dem Weg hinter die unüberwindbaren Mauern der Festung.
Woher wussten die Helden in Romanen immer, wann der richtige Moment für den tollkühnen Sprung ins Ungewisse da war? Mira lauerte in der Dunkelheit des Lieferwagens, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sollte sie die Tür aufstoßen und hinausspringen? Aber was, wenn sie mitten in eine Halle voller Menschen platzte? Sollte sie warten, bis der Glatzköpfige die Türen öffnete? Aber wie sollte sie dann an ihm vorbei nach draußen gelangen? Was, wenn er den Laderaum betrat und ihr den Weg zur Tür versperrte?
Wie sollte sie das entscheiden? Ein falscher Schritt, ein unüberlegter Atemzug, und alles flöge auf. Es stand zu viel auf dem Spiel, um es einfach darauf ankommen zu lassen!
„Zeig mir den richtigen Moment“, betete sie. Konnte Gott nicht eine Kiste geradewegs von ihrem Stapel fallen lassen, als Zeichen, dass die Luft jetzt rein war? Mira starrte die Kartons an, während das Klopfen ihres eigenen Herzens ihr in den Ohren dröhnte. Aber nichts geschah.
Um ganz genau zu sein, überhaupt nichts. Es blieb totenstill um den Lieferwagen. Der Motor war abgestellt worden, alle Schritte, alles Scheppern, alle Geräusche waren verstummt.
Es kostete Mira eine gefühlte Ewigkeit in der beengenden, stillen Dunkelheit, um endlich ganz sicher zu sein: Sie war alleine. Jetzt oder nie musste sie es wagen, die Türen zu öffnen, um zu entkommen.
„Bitte, bitte lass sie nicht verschlossen sein!“ Mira drückte eine schwitzige Handfläche gegen das Metall, und die Tür gab unter dem Druck nach.
Im ersten Moment brannte das helle Licht mehrer Neonröhren zu sehr in Miras Augen, als dass sie sich hätte umsehen können. Dann suchte sie die Umgebung hastig mit ihren Blicken ab. Eine Lagerhalle, klein, unordentlich und verlassen.
Auf zittrigen Knien ließ Mira sich aus dem Laderaum gleiten, verschloss die Türen hinter sich und sah sich ausgiebig um. Das metallene Tor zum Hof war wieder fest verriegelt. Zwei weitere Türen mündeten in den Lagerraum. Türen, die tiefer in das Gesundheitszentrum führen mussten. Mira befand sich hinter den feindlichen Linien. Jetzt musste sie nur noch den Ort finden, an dem die Medikamente aufbewahrt wurden.
Ihre Schritte, sich öffnende und schließende Schranktüren, ihre eigenen Atemzüge − alles hallte unnatürlich und viel zu laut in Miras Ohren. Über ihrem Kopf flackerte eine Neonröhre und ließ ihre Bewegungen bizarre Schatten auf den Betonboden werfen.
Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie sich schon im staatlichen Gesundheitszentrum befand und wie viele Räume sie bereits vergeblich durchkämmt hatte, an jeder Tür mit klopfendem Herzen innehaltend und auf Stimmen auf der anderen Seite lauschend.
Mira stürzte zu einer weiteren Reihe spindähnlicher Schränke und riss mit zittrigen Fingern einige Türen und Schubladen auf. Ordentlich gefaltete Handtücher und Bettlaken stapelten sich auf den Regalbrettern, ein Sammelsurium aus offenbar ausrangiertem, staubigem Geschirr im nächsten Fach.
Warum eigentlich war sie hier unten noch niemandem begegnet? Bei dem geschäftigen Treiben, das sie durch die Fenster in den oberen Stockwerken beobachtet hatte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht entdeckt worden war. Sie hatte das Gefühl, ihr Glück nicht überstrapazieren zu dürfen. Aber sie konnte nicht einfach gehen. Nicht ehe sie nicht wenigstens irgendetwas gefunden hatte, das Chas helfen konnte.
Mit beunruhigend laut dröhnenden Schritten hastete sie zu einer Tür und riss sie auf. Dahinter erstreckte sich im Halbdunkel ein weiterer Raum voller Schränke. Als Mira einen davon aufzog, musste sie sich die Faust auf die Lippen pressen, um keinen Triumphschrei auszustoßen. Feinsäuberlich einsortiert lagerten darin Infusionen, Tabletten, Säfte und Tinkturen. Etiketten auf den Regalböden wiesen aus, mit was sie es zu tun hatte. Mira las einige davon und versuchte, СКАЧАТЬ