Название: Advent, Advent, die Alster brennt
Автор: Kai Riedemann
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783937881225
isbn:
»Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Pauli. Und grüßen Sie die Familie.«
3. PREIS
Sarah Fiona Gahlen
Engel und Weihnachtsmann
Es sind noch zwei Tage bis Heiligabend. Vor dem kleinen Café im Grindelviertel verabschiede ich mich von Annika. Die Fensterscheiben sind mit Sprühschnee unbeholfen mit Schneeflocken verziert worden, die Weihnachtsdekoration sieht irgendwie unordentlich aus. Das ganze Viertel wirkt schon jetzt sehr leer auf mich.
»Bis zum nächsten Jahr, Katharina«, sagt Annika, als sie mich umarmt. Sie hat ganz leuchtende Augen. Mir war überhaupt nicht klar, dass Weihnachten auch auf Menschen im Alter von über zwanzig Jahren eine Wirkung ausüben kann, die ich sonst nur bei meinen kleinen Cousins beobachten kann. Wenn ich jemals in eine solche Vorfreude verfallen sein sollte, bin ich zumindest im Moment nicht in der Stimmung, mich daran zu erinnern. Trotzdem will ich Annika nicht die Freude verderben. »Frohe Weihnachten«, wünsche ich ihr und sehe ihr nach, wie sie davoneilt.
Ich schrecke auf, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippt. »Gesegnete Weihnachten«, sagt eine tiefe Stimme, noch tiefer verstellt.
Ich seufze, verdrehe die Augen und wende mich um. »Hallo, Stefan.«
Er zwinkert mir zu. Stefan hat strahlend blaue Augen und ist niemals richtig rasiert. Er könnte der erklärte Frauenschwarm unseres Jahrganges sein, aber selbst dafür ist er eine Spur zu herablassend. Ich halte mich normalerweise von ihm fern, auch wenn ich ahne, dass wir uns gut verstehen könnten.
»Gar nicht in Weihnachtsstimmung?«, fragt Stefan. »Fährst du nicht heute oder morgen nach Hause?«
»Nein, dieses Jahr nicht«, sage ich einsilbig. »Und du?«
Er schüttelt den Kopf. »Auch nicht.« Jetzt ist er es, der nicht weiterspricht. Die stumme Frage hängt zwischen uns, bis ich mir ein Herz fasse. »Was machst du dann übermorgen Abend?«
Stefan grinst. »Ich spiele den Weihnachtsmann.«
Mein Blick muss ziemlich verdutzt sein. Stefan lacht leise. »Ja. Über die studentische Weihnachtsmannvermittlung. Das macht ziemlich viel Spaß, man sieht an einem einzigen Abend vier oder fünf Weihnachtsbäume und geschmückte Wohnzimmer, man verteilt Geschenke und hört Weihnachtslieder. Es ist ein bisschen so, als würde man viermal Weihnachten feiern.«
So habe ich das noch nie gesehen. Mir haben die verkleideten Männer am Heiligen Abend immer leidgetan, aber im Vergleich zu einem einsamen Weihnachtsabend zu Hause ist es vielleicht gar nicht schlecht, im roten Mantel durch die Stadt zu ziehen. Ich sage nichts, aber Stefan sieht mich aufmerksam von der Seite an.
»Warum kommst du nicht mit?«
»Ich?«, frage ich erschrocken zurück.
»Ja, warum nicht? Als Weihnachtsengel. Wenn du möchtest.«
Stefans Stimme ist ausdruckslos, und er sieht mich nicht direkt an. Ich weiß nicht, ob er sich über mich lustig macht oder es ernst meint, aber ich bin in der Stimmung, das Spiel auf die Spitze zu treiben. »Na dann, gerne«, sage ich. »Was ist mit dem Kostüm?«
»Das wird gestellt.«
»Oh, gut. Ich schätze, gut bezahlt wird es nicht?«, frage ich.
»Nein«, antwortet Stefan, neigt dann aber ein wenig den Kopf. »Naja«, sagt er. »Wie man es nimmt.«
Der Nieselregen flimmert in den Lichtkreisen der Straßenlaternen, die längst angesprungen sind. Fast wünschte ich, es wäre schon später und richtig dunkel. Es erinnert mich daran, wie mein Vater mich immer getröstet hat, wenn es am Weihnachtsmorgen Tauwetter gab oder es von vornherein viel zu warm war für Schnee. »Heute Abend ist es sowieso dunkel, und wenn überall Lichter sind, ist es egal, wenn kein Schnee liegt.« Er hatte jedes Jahr wieder recht.
In Harvestehude sind viele Fenster erleuchtet, und hier und dort glänzt eine Lichterkette in einem Balkonkasten, aber der Himmel ist noch von einem stumpfen Blaugrau erfüllt. Auf dem Gehweg liegt am Rand noch Laub, im Regen zu einem braunen Matsch zertreten.
Ich habe ein langes, hellblaues Kleid angezogen, darüber einen schneeweißen Wollpullover, warm genug für einen verregneten Heiligen Abend. Mein Kostüm besteht aus einem weiten weißen Umhang mit langen Schlitzen für die Pappflügel, die ich mit breiten Stoffträgern wie einen Rucksack auf dem Rücken trage. Brünette Engel müssen ein wenig mehr Mühe auf ihre Frisur verwenden als blonde, meine Haare sind geflochten und hochgesteckt.
Stefan dagegen sieht ganz verändert aus und wirklich wie der Weihnachtsmann, ohne dass ich genau sagen könnte, woran es liegt. Natürlich trägt er einen weißen Bart, aber er lässt eigentlich ziemlich viel von seinem Gesicht sehen. An ihm sieht die Mütze gar nicht albern aus, und sein langer roter Mantel ist fast etwas zu dunkelrot. Den großen Jutesack trägt er lässig über der Schulter.
»Und?«, frage ich. »Wo wohnen unsere ersten artigen Kinder?«
Im Treppenhaus des Altbaus ist es ziemlich dunkel, die Treppe ist steil, aber Stefan hat mich zurückgehalten, als ich nach dem Lichtschalter gesucht habe. »Nie das Licht anmachen«, raunt er. »Die Wohnungen sind dunkel am Weihnachtsabend, Licht aus dem Flur stört.«
Vor uns öffnet sich die weiß gestrichene Tür mit dem Buntglaseinsatz.
»Wer da wohl ist?«, höre ich eine Stimme auf der anderen Seite. Eine schlanke Frau in dunkler Bluse und heller Hose steht im Türspalt.
»Fröhliche Weihnachten«, sagt Stefan laut und seltsam feierlich.
»Der Weihnachtsmann«, ruft die Frau gekünstelt über die Schulter zurück, und winkt uns mit einer kurzen, geübten Geste herein.
Halb im Flur steht ein kleiner Junge, wunderschön angezogen, mit einem Hemd in Kindergröße und einer Fliege. Hinter ihm ist das Wohnzimmer golden erleuchtet, und an dem großen Weihnachtsbaum brennen kleine, warme Lichter.
»Ich weiß, du warst brav«, sagt Stefan, als er ein paar Schritte vortritt, und ich kann sein Augenzwinkern sehen. »Hallo, Philipp.«
Philipp sagt nichts, seine Augen sind riesig in seinem Gesicht.
»Philipp hat ein Gedicht gelernt, lieber Weihnachtsmann«, lässt sich seine Mutter hören.
»Das ist aber schön«, sage ich, und fange einen amüsierten Blick von Stefan auf.
»Hast du denn auch Lust, es aufzusagen?«, fragt er, während er neben Philipp in die Hocke geht.
Man sieht Philipp an, dass er jetzt gern irgendwo anders wäre. »D … denk nur, ich habe das Christkind gesehen«, setzt er an, aber dann stockt er auch schon und sieht hilflos auf.
»Oh, das kenne ich«, sagt Stefan behutsam in die Stille hinein. »Es kam aus dem Walde …«, versucht er, Philipp zu helfen.
»Es kam aus dem Walde …«, wiederholt Philipp mit schwankender Stimme und stockt dann wieder.
СКАЧАТЬ