Название: Advent, Advent, die Alster brennt
Автор: Kai Riedemann
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783937881225
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Drittes Obergeschoss: Buchhaltungsabteilung. Sein Bereich, den er zu betreuen hatte. Es waberte ein Duft von Glühwein und Zimtsternen durch den Flur, wie jedes Jahr am letzten Freitag vor Weihnachten. Doch diesmal dürfte es eine traurige Weihnachtsfeier werden. Acht Mitarbeiter entlassen, alle bereits mit einem Abfindungsvertrag aus der Firma gedrängt. Pauli schnupperte an seiner Strickjacke. Noch immer haftete der Geruch der Gespräche an ihm, er wurde ihn einfach nicht los. Nach Schweiß roch es in seinem Büro, genauer gesagt: nach Angstschweiß. Ausgedünstet von Mitarbeitern, die um ihren Arbeitsplatz kämpften. Und auch verströmt von jenen, die mit gesenktem Kopf ihre »Freisetzung« als Urteil einer höheren Gewalt hinnahmen. Freisetzung! Schon wieder so ein Verschleierungsbegriff.
Der Paternoster rumpelte weiter, die Kabinen bewegten sich in einer endlosen Kette. Auf der rechten Seite nach oben, auf der linken Seite nach unten. Dieses Rumpeln hatte Pauli während seiner gesamten Zeit in dieser Firma begleitet. Es störte ihn nicht. Es erschien ihm eher als ein Sinnbild des Stromes an Arbeit, der all die Jahre an ihm vorbeigezogen war. Eine Arbeit, die er mochte. Bisher jedenfalls. Als Personalreferent hatte er Mitarbeiter eingestellt, sie auf ihrem Weg in der Firma begleitet, ihr Ausscheiden als Rentner abschließend dokumentiert. Mit manchen hatte er Sorgen und Nöte geteilt. Öfters mit Frauen als mit männlichen Kollegen. Mitarbeiterinnen trugen ihr Herz eher auf der Zunge als die Männer, die fraßen den Ärger in sich hinein.
Zweites Obergeschoss: Vertriebsabteilung. Es war der größte Bereich, für den er zuständig war. Wieder diese Magenschmerzen! Pauli schluckte gegen eine aufkommende Übelkeit an. Er schloss die Augen und versuchte krampfhaft, nicht an den Vertrieb zu denken.
Erstes Obergeschoss: Hausbetriebe und Druckerei. Über die Leute hier wusste er nicht viel, das war der Bereich des Kollegen Jacobsen. Der sprach nicht viel, schon gar nicht über die Mitarbeiter, die er zu betreuen hatte.
Erdgeschoss: Empfangshalle und Telegrafenraum. Pauli sprang aus dem Paternoster, hinter ihm sank die Kabine in die Tiefe. Er atmete tief ein, blickte sich dann mit einem Lächeln um. Der Eingangsbereich des Kontorhauses hatte sich seit einem Jahrhundert kaum verändert. Außen schlichte Fassade, doch innen diese prunkvolle Halle: Zwei riesige Kristallleuchter an der hohen Stuckdecke, die Wände mit edlen Hölzern verkleidet, der Fußboden atmet Bodenständigkeit in hellem Marmor. Am Ende der breiten Treppe der Brunnen, aus einem Sandstein herausgehauen.
Wie schon immer überflutete Pauli dieses Glücksgefühl, wenn er in der Halle stand. Das war schon als Junge so gewesen, als ihn sein Vater einmal hierher mitgenommen hatte. »Hindenburghaus, Großer Burstah 31«, hatte der Vater geraunt, als ginge es um das Versteck eines Schatzes, »das älteste Kontorhaus Hamburgs, 1909 gebaut.« Und es war tatsächlich ein Schatz gewesen. Diese riesig hohe Halle, die Kronleuchter, an denen die Diamanten funkelten, die breite Treppe nach oben, die Ausbuchtungen im Geländer wie bei einer Kanzel in der Kirche, das alles erschien dem kleinen Rainer wie ein Wunder.
Und auch jetzt fühlte sich der Personalreferent Pauli wieder wie ein staunender Junge, als er an den hölzernen Säulen vorbei nach oben blickte. Das Geländer rechts und links der Treppe hatte es ihm besonders angetan. Ach nein, nicht angetan, das war entschieden zu wenig. Es weckte immer noch dieses stürmische Verlangen in ihm, sich einfach darauf zu setzen und jauchzend herunterzurutschen. Natürlich tat er es nicht, denn die Fahrt würde unweigerlich vor den Füßen von Herrn Ramelow enden.
Herr Ramelow war nicht nur der Pförtner der Betha-Radlager GmbH, sondern auch das Aushängeschild der Firma. Er war der Mann, dem man als Erstem begegnete, wenn man die schwere Eingangstür aufgedrückt und die gläserne Zwischentür durchschritten hatte. Selbstverständlich kannte Herr Ramelow die Namen aller Mitarbeiter, das waren nicht gerade wenige. Jedenfalls bisher. Der nicht sehr groß geratene, doch trotz seiner grauen Schläfen immer noch schlanke Herr Ramelow verkörperte mit seinen korrekt sitzenden Maßanzügen und den Krawatten in gedeckten Farben den hanseatischen Geist des Hauses.
Sie kannten sich schon seit Jahrzehnten, Pauli und Herr Ramelow. Gelegentlich plauderten sie miteinander. Nichts Persönliches, selbstverständlich nicht. Mehr ein allgemeines Gespräch, von gegenseitiger Sympathie getragen. Über das Wetter, über den HSV und über die viel zu hohen Preise des Nahverkehrs. Diese kurzen Gespräche in der alten Halle versetzten Pauli immer in einen Zustand der abgeklärten Ruhe. Sie hinterließen jedoch auch eine gewisse Beklemmung, wenn er angesichts dieses perfekt gekleideten Herren an seine an den Sitzflächen abgewetzte Hose und seine abgetragene Strickjacke dachte.
Jetzt allerdings war die Pförtnerloge verwaist. Wo war Herr Ramelow? Wo war dieser überaus korrekte Mann, der doch nie seinen Platz verließ? Vielleicht ist er auf der Toilette, dachte Pauli, so etwas soll ja mal vorkommen, sogar bei Pförtnern. Er durchquerte die Halle und trat durch eine schmale Tür in den Telegrafenraum. Hier stand der große, altertümliche Fernschreiber mit seiner weißen Papierrolle und dem gelben Lochstreifen. Und seit Neuestem stand hier auch das Telefax-Gerät. Ein kleiner, beiger Kasten mit grünen Lämpchen, der das Wunder vollbrachte, keine unformatierten Nachrichten auszuspucken wie der Fernschreiber, sondern richtige Briefe und sogar Kopien von Originaldokumenten. Pauli hatte sich nicht die Mühe gemacht, diesen Zauberkasten zu verstehen. Ihm reichte es, wenn er funktionierte. Und das tat er. Meistens jedenfalls.
Bis vor Kurzem war hier noch Frau Kunze beschäftigt gewesen, die den Fernschreiber bedient und die ankommenden Mitteilungen im Hause verteilt hatte. Doch mit der neuen Technik war nicht nur das Fernschreibgerät stillgelegt, sondern auch die Bedienungskraft entlassen worden. Seit dieser Zeit war Herr Ramelow für die eingehenden Nachrichten zuständig. Wenn eine Meldung hereinkam, rief er die Fachabteilung an, die dann einen Mitarbeiter nach unten schickte. Doch darauf durfte sich Pauli heute nicht verlassen, denn er erwartete ein Gutachten des Arbeitgeberverbandes über die »arbeitsrechtliche Beurteilung der Freisetzung der Mitarbeiter des Vertriebs-Bereichs«. Undenkbar, was geschehen würde, wenn jemand anderes als die Personalabteilung diese Expertise zu Gesicht bekäme. Das würde die Firma in ihren Grundfesten wanken lassen. Obwohl eigentlich nicht mehr viel dazu gehörte, die Grundfesten zu erschüttern.
Die Maschinen sonderten reichlich Wärme ab, es wurde Pauli heiß in dem kleinen Raum. Er stellte sich in die Halle, das eine Auge auf den Paternoster, das andere auf die Treppe gerichtet. Sollte jemand herunterkommen, würde er sofort den Telegrafenraum in Beschlag nehmen.
Immer noch kein Telefax. Pauli wanderte zwischen dem Paternoster und der Treppe hin und her. Schließlich stellte er sich neben die Zwischentür und blickte durch die Kristallglasscheiben nach draußen. Es schneite. In der nachmittäglichen Dunkelheit hasteten Menschen vorbei, auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken. Es wurde Zeit: In ein paar Tagen war Heiligabend. Stille Nacht, Heilige Nacht. Für viele war es eine unheilige Nacht mit einem Gabentisch, auf dem die Kündigung lag. Rechtzeitig als Einschreiben mit Rückschein abgeschickt, um die Frist bis zum Jahresende zu wahren.
Es schneite nun in richtig dicken Flocken. Pauli widerstand dem starken Drang, nach draußen zu gehen und Schneeflocken aufzufangen. Oder in den Schnee hinauszuwandern, immer weiter und weiter. Weg von der Firma mit diesem schrecklichen Geschäftsführer, der ihn zwang, Menschen unglücklich zu machen, die ihm nichts getan hatten.
Pauli hatte Lust, sich zu unterhalten. Um die Zeit totzuschlagen, bis das Telefax kam. Doch Herr Ramelow war noch nicht zurückgekommen. Also stellte er sich wieder so auf, dass er die Treppe und den Paternoster im Auge behalten konnte.
In einer der Kabinen, die aus dem Keller kam, war ein Mann. Pauli erkannte ihn sofort. Unwillkürlich nahm er Haltung vor dem Geschäftsführer an. Doch der Mann nahm keine Notiz vom Personalreferenten Pauli. Er hing in einer Ecke der Kabine, war zusammengesunken, die Knie eingeknickt. Sein weißes Hemd war rot gefärbt, das Jackett auch. Vom Mund führte ein dünner, blutiger Faden zum Kinn. Pauli starrte den Mann an, der rumpelnd nach oben verschwand. Wim van Zijstra war tot, das war unübersehbar, offensichtlich СКАЧАТЬ