Название: Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор: Raimund August
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957448019
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Doch dass Wilhelm Hankel in der Nebenzelle saß, hatte sich für Sebastian als etwas Unerwartetes erwiesen. Zwischen Kübelwechsel und Frühstück wurden nach zehn Minuten die Messer zum Zerschneiden der Brotstücke wieder aus den Zellen geholt. Nach dem Frühstück warteten die Gefangenen auf die Freistunde und Sebastian insbesondere auf das Zusammentreffen mit Wilhelm Hankel. Zwölf Jahre! Er konnte es noch immer kaum glauben. Beim Anstellen auf dem Gang stand er so, dass Hankel aus der Nebenzelle sich dicht hinter ihn stellen konnte.
„Wonach hat man euch denn verurteilt?“, fragte Sebastian, den Kopf etwas seitwärts geneigt.
„Artikel 6 und Kontrollratsdirektive 38“, antwortete Hankel gedämpft.
„Dann seid auch ihr allesamt, du und die jungen Burschen mit dir, stramme Kriegsverbrecher“, und er konnte sich dabei ein hysterisches Kichern kaum verkneifen. Dann sah er sich ganz nach rückwärts um und blickte in Wilhelm Hankels bekümmertes Gesicht. Er tat ihm wirklich leid. Es hatte den ja wesentlich schlimmer erwischt als ihn. Der hatte damals, als er an einem Sonnabend sein Stammlokal aufsuchte, nie damit rechnen können, dass er von dort nicht mehr zurückkehren würde. Dann der Schreck am nächsten Morgen und endlich die Erlösung, als die Russen sie freigelassen hatten … und er kehrte doch nicht zurück, alles war am Ende verloren: Haus, Hof und Familie, die man davongejagt hatte. Eigentlich ist so was nicht wirklich zu begreifen, sagte er sich.
„Alles Marsch!“, ertönte schließlich die Stimme des Stationskalfaktors und ein weiterer Austausch mit Hankel wäre in dem dann anbrechenden Krachen der schweren Holzschuhe auf den Holzplanken des Gangs nicht mehr möglich gewesen. Dann ging es polternd die steinernen Treppen hinab und hinaus auf den Hof.
„Abstand halten!“, rief dort der Vorturner, auch ein Gefangener, und trat in die Mitte des Rasenstücks, das die Gefangenen einzeln hintereinander zu umrunden hatten.
Und so liefen sie, Sebastian, Hankel hinter ihm und die anderen der Station in ihren Holzschuhen und runden Mützen auf den Glatzen, im Gleichschritt und im Kreis um den Rasen auf dem der Vorturner stand und die Kommandos gab: „Links, links, links zwo drei vier …“ An allen vier Ecken des Rundlaufs hatten sich Wärter postiert und achteten darauf, dass jeder Gefangene die in den Erdboden eingelassenen weißen Ziegel beachtete, die an vier Seiten des Rundgangs jeweils einen rechten Winkel beschrieben, den jeder im Gleichschritt in exakter Wendung zu nehmen hatte.
Dazu immer wieder die Stimme des Vorturners: „Links, links, links zwo drei vier …“ Schließlich der Ruf: „Alles Halt! Links um!“, also mit dem Gesicht zum Vorturner, der dann mit Kniebeugen begann, bei denen einige ältere Gefangene von den Posten angeschnauzt wurden, weil sie dabei nur langsam und schwer aus der Hocke wieder hoch kamen. „Na machen Sie endlich! Sie können doch den ganzen Laden hier nicht aufhalten!“
Dann Rumpf beugen, sodass die Fingerspitzen die Schuspitzen berührten. Der Vorturner demonstrierte jedes seiner Kommandos. Auch hier brachten viele der Älteren die Figerspitzen gerade mal bis über die Knie. Schließlich die angewinkelten Arme ausgebreitet einige Male nach hinten schlagen, dann nach oben, um sie danach auszuschütteln.
Dann wieder: „Rechts um! Im Gleichschritt marsch! Links, links, links zwo drei vier …“ Alles lief weiter und jeweils exakt um die eingelassenen weißen Ziegel an den vier Ecken des Kreises, Sebastian kam das blöde vor, diese Verrenkungen, die sich dabei ergaben. Er ließ sie aus.
„Alles Halt!“, rief daraufhin einer der Posten und ging auf Sebastian zu. „Sind Sie blind?“
„Nein“, sagte der.
„Nehmen Sie die Mütze ab, wenn ich mit Ihnen rede. Wie heißen Sie?“
„Sebaldt.“
„Wie?“
„Sebastian Sebaldt.“
„Strafgefangener heißt das. Sie sind verurteilter Strafgefanger, also?“
„Strafgefangener Sebaldt“, sagte Sebastian.
„Wie lange sind Sie hier?“
„Dreiundzwanzig Tage.“
„Und wie hoch verurteilt?“
„Zehn Jahre.“
„Da haben Sie ja noch ’n bisschen Zeit … Was sehen Sie denn da?“ Und er wies auf die in den Boden eingelassenen weißen Ziegel.
„Weiße Ziegel.“
„Und was bedeuten die?“
„Ist ein rechter Winkel.“
„Na so was. Und warum beachten Sie den nicht?“
„Ich war nicht im richtigen Tritt.“
„Nicht im Tritt, so, so … also zurück hop, hop. Und nehmen Sie die Ecke jetzt vorschriftsmäßig.“
Sebastian ging nach sekundenlanger Überlegung einige Schritte zurück. In den Kellerarrest bei Wasser und Brot wie er gehört hatte, wollte er so einer Lappalie wegen denn doch lieber nicht.
Der Uniformierte stellte sich provozierend breitbeinig in seinen Stiefeln genau an der Ecke auf und kommandierte: „Links, links, links zwo drei vier …“
Und Sebastian marschierte, wenn auch von widerwilligen Gefühlen bewegt, wie ein tapferer Zinnsoldat und setzte die Füße in den klobigen Holzschuhen exakt in den von weißen Ziegeln vorgegebenen rechten Winkel.
„Halt“, rief der Posten. „Ab jetzt immer so!“ Und er winkte dem Vorturner.
„Links, links, links zwo drei vier … kam dann wieder dessen Stimme und die Gefangenen setzten sich, unter Beachtung der rechten Winkel an den vier Ecken des Rundlaufs, wieder in Bewegung bis zum Kommando: „Einrücken!“, das diesem Rundmarsch, der sich Freistunde nannte, ein Ende setzte. Im Gänsemarsch, eine Reihe von Vogelscheuchen, zogen die Gefangenen über einige Granitstufen wieder in den Zellenbau ein. Dort dröhnte dann das Stampfen und Krachen der schweren Holzschuhe auf den steinernen Stufen der Treppe über die einzelnen Stationen nach ganz oben und dort über die Holzplanken der Galerie vor die Zellentüren. Da nahmen dann die Gefangenen die von den Kalfaktoren geleerten Waschwassereimer und Kübel, sowie die gefüllten Frischwasserkannen über den Tag mit in die Zellen. So wurden tagtäglich nacheinander die Insassen jeder Station zum Rundgang geführt.
Die Lebenslänglichen mit roten statt gelben Streifen an Ärmeln, Hosenbeinen, am Rücken und an den runden Mützen, drehten immer separat ihre Runden.
Auch einige wenige Gefangene, die „aufhetzerischer Äußerungen“, wegen in Einzelhaft saßen, liefen dann, wie Sebastian erfahren hatte, in Riesenabständen sehr einzeln ihre Runden ums Karree.
„Was versteht man denn unter aufhetzerischen Äußerungen?“, wollte Sebastian wissen.
„Na was schon!“, war ihm geantwortet worden. „Du kommst doch nicht vom Mond … die sind angeschissen worden. Spitzel in den Zellen, das weiß doch hier jeder. Das gab’s nicht nur in der Spreestraße. Auch hier muss einer immer überlegen was er sagt und wem er was sagt. Sonst kann jeder wegen Staatsverleumdung oder Boykotthetze noch was СКАЧАТЬ