Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
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Название: Auf der anderen Seite der Schwelle

Автор: Raimund August

Издательство: Автор

Жанр: Короткие любовные романы

Серия:

isbn: 9783957448019

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СКАЧАТЬ die Wanderung wieder auf. Jeder der vier langjährig Verurteilten hatte ja die Vielschichtigkeit seiner ganz eigenen Welt draußen lassen müssen. Dort in den vollgestellten Zellenschächten schrumpfte dann in der Regel die Persönlichkeit jedes einzelnen auf das Minimum ihres Selbsterhalts. Aber davon wussten die beiden Freunde, trotz ihrer Feuertaufe in den Stasi- Katakomben, noch nichts. Sie waren über diese Schwelle in eine Welt getreten, über die sie nur vom Hörensagen gewusst hatten und über die in der Welt, aus der sie kamen, ängstlich geschwiegen wurde: Hinter ihnen geht einer, hinter ihnen steht einer, dreh’n Sie sich nicht um …! Und die verängstigten Schweiger gehorchten und sahen sich nicht um …

      Der Tag war zu Ende gegangen. Sebastian blickte wieder wie so oft durch die Gitter nach draußen. Ganz unten vom Hof stieg allmählich Dunkelheit wie grauer Dunst auf, der vom Scheinwerferlicht aus dem Wachturm zerschnitten wurde. Licht, das die weißen Zuchthausmauern bis an die Zellendecke zurückwarfen, um dort als Schattenriss die Gitterstäbe abzubilden. Gitter wohin man auch sieht, sagte Sebastian sich, selbst noch als Schatten an der Wand.

      Die anderen in der Zelle schliefen bereits tief atmend auf ihren Strohsäcken, auch sein Freund Totila. Zählung und Einschluss fanden im Sommer um acht Uhr statt. An klaren Tagen schien um diese Zeit noch die Sonne und Amseln sangen. Doch tief hängende graue Wolken, aus denen seit Wochen fast ohne Unterbrechung Regen fiel, bedrückten das Land, verwandelten Felder in Morast und ließen sonst harmlose Bäche ganze Weideflächen überfluten. Grünfutter konnte nicht eingebracht werden, das Vieh musste vielfach in den Ställen bleiben und Heu wurde knapp. So entnahmen sie’s den klein geschnittenen Zeitungspapierqadraten, die den Gefangenen als Toilettenpapier zugeteilt wurden.

      Sebastian lag schließlich auch auf seinem Strohsack. Draußen stieg feucht nächtlicher Dunst auf. Er rollte sich zusammen und versuchte einzuschlafen.

      Das schrille Geräusch von Eisen auf Eisen riss bereits um sechs Uhr die Gefangenen wieder aus dem Schlaf. Am Tage auf dem Bett zu sitzen, geschweige denn zu liegen, war laut Zuchthausordnung streng verboten.

       Kapitel 3

      Als am nächsten Morgen Sebastian als Neuer dran war nach der Zählung und vor der Frühstücksausgabe den randvollen Kübel vor die Tür auf den Gang zu stellen, stand er daher plötzlich dem Wilhelm Hankel aus Hohenleipisch gegenüber, mit dem er sich in der Spreestraße für einige Tage eine Zelle hatte teilen müssen. Beide sahen sich verblüfft an.

      Hankel, ein kleiner Fuhrunternehmer Mitte vierzig, mit Frau und fünfzehnjähriger Tochter, der im wesentlichen Stückgut im Auftrag einiger weniger Kleinunternehmer mit Pferd und Wagen zum Bahnhof und zurück transportierte, sowie nebenbei Umzüge abwickelte oder sein geschmücktes Gespann für Vatertagsausflüge, aber auch zum 1.Mai-Umzug, vermietete.

      „Was machst du denn hier?“, fragte Sebastian immer noch erstaunt. „Ich hätte gewettet du bist längst zu Hause.“

      Hankel grinste nur. „Zwölf Jahre“, sagte er, „enteignet, alles weg und die Familie aus dem Haus gejagt. Bin jetzt ’n armer Mann …“ Dann kam aber auch schon der Wachtmeister und reden auf dem Gang war strengstens untersagt. „Bis nachher“, sagte Hankel noch, ehe er sich in seine Zelle verzog.

      Auch Sebastian trat eilig in die seine zurück.

      „Nee“, sagte er dann kopfschüttelnd, „unglaublich! Das ist ja ’n Ding. Ich dachte zuerst wirklich ich seh’ nicht richtig.“ Und wieder sah er zu Boden und schüttelte den Kopf. „Der Hankel, Wilhelm Hankel hier neben uns“, und er wies rechter Hand auf die Zellenwand. „Ein kleiner Fuhrunternehmer aus Hohenleipisch mit einem Pferd. Das ist einer, den ich aus der Spreestraße kenne.

      Zwölf Jahre! Und ich glaubte den längst zu Hause.“ Dann lief Sebastian ein paar Mal die wenigen Schritte zwischen den Betten auf und ab und ließ sich schließlich auf einen Hocker am Tisch fallen. „Also ich weiß“, sagte er dann, „ich weiß, wir sind ganz bewusst gegen diesen Staat hier vorgegangen … dass wir verraten wurden ist wieder eine andere Sache. Aber dieser Wilhelm Hankel, der hat ja nie auch nur daran gedacht sich in irgendeiner Form aufzulehnen.

      Und jetzt zwölf Jahre und die Familie aus dem Haus gejagt. Das verstehe wer will …“

      Klaus, der Graumelierte, lachte kurz. „Du sagst von dir, du hättest bewusst gehandelt, dann müsstest du aber deinen Gegner auch kennen. Die Verblüffung über das Geschehen hinsichtlich dieses Hankel sagt jedoch, dass du das nicht verstehst. Ich meine dieses sozialistisch-kommunistische System. Dein Zellengenosse aus der Spreestraße, der kleine selbständige Fuhrunternehmer, war in der angestrebten Gesellschaftsordnung ein gerade noch geduldetes Ungeziefer, um hier mal deren eigenen Wortschatz zu verwenden, also ein in der Wolle gefärbter Kleinbürger. Wenn man die los werden kann, dann nimmt man halt jede sich bietende Gelegenheit wahr.“

      „Du hast sicherlich Recht“, sagte Sebastian, „Nicht die angebliche Straftat bestimmt dieses verrückte Urteil, sondern Wilhelm Hankel selbst ist es, eine bürgerliche Existenz, ein Kleinunternehmer, ein Klassenfeind.“

      „Ja, ganz richtig.“ Der Graumelierte nickte zustimmend. „Das ist aber nicht immer leicht zu erkennen“, fügte er hinzu, „eine Menge Ausnahmen verwirren das Bild, denn man braucht vielerorts diese selbständigen Existenzen ja noch.“

      „Aber zwölf Jahre für Wilhelm Hankel? Ich hätte jede Wette abgeschlossen“, erklärte Sebastian, „dass der sehr bald wieder draußen sein würde. Damit hatte ich ihn zu trösten versucht. Höchstens ein paar Monate, hatte ich ihm gesagt, damit die Untersuchungshaft gerechtfertigt wird.“

      „Es ist schon erstaunlich“, reagierte Günter, der Rundgesichtige mit der Halbglatze, „dass man immer wieder sprachlos ist, über das, was die so anrichten.“

      „Die schneiden sich doch dauernd ins eigene Fleisch“, warf Totila ein.

      „Ich denke nicht“, erklärte Klaus, „, dass dein Hankel Fleisch von ihrem Fleische ist, indem der nämlich persönlich verantwortete Arbeit leistete, damit für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie selbst aufkam, also selbständig war. Dann passt so einer eben nicht ins kollektivistische Konzept und ist unerwünscht. Aber wie ich schon sagte“, wandte er sich an Sebastian, „man braucht solche Menschen eben noch, wenn auch nur für eine Übergangszeit wie es in der Partei unter der Hand heißt. Dein Hankel war offensichtlich bereits verzichtbar.“

      „Ja schön und gut“, mischte wieder Günter sich ein, „aber inzwischen sind wir schon neugierig, wer denn nun dieser Wilhelm Hankel aus der Nebenzelle ist, den du hier dauernd erwähnst. Was war denn dem so Schlimmes geschehen, wenn er doch nichts getan hat …“

      „Geschehen ist richtig“, sagte Sebastian. „Ihm war was geschehen und nicht nur ihm. Ich hatte nach seinen ersten Erzählungen damals, also weshalb er dort in der Spreestraße saß, auch nicht verstehen können, wieso ihn eine Kneipenzeckerei, von Keilerei konnte keine Rede sein, mit drei Rotarmisten, in die Cottbusser Stasizentrale bringen konnte. Ich begriff erst gar nicht was die von ihm gewollt hatten, was sie ihm vorwarfen.“

      „Na dann erzähl’s doch mal, vielleicht begreifen wir’s“, forderte der Graumelierte.

      Sebastian stand wieder am Fenster und blickte von dort in die Zelle zurück.

      „Ich wollte doch nur klar machen“, sagte er, „dass das Ganze schwer zu verstehen ist.“

      „Dann fang’ schon an“, sagte wieder Klaus, der auf einem Hocker saß und seinen Ellenbogen auf der Tischkante abstützte, „wir sind ja nicht СКАЧАТЬ