Название: Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch
Автор: Peter Langer
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783874683913
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Nach dem Jahreswechsel hielt sich Reusch mit Empfehlungen plötzlich auffallend zurück, obwohl ihn das KEA auch im Jahre 1917 jeden Monat an mehreren Tagen in Anspruch nahm. In den ersten Monaten des Jahres konzentrierte sich die Diskussion im Kriegsernährungsamt auf die Denkschrift des bayerischen Ministerialdirektors Edler von Braun, der die Probleme der Lebensmittelversorgung ganz auf die zu niedrigen Preise zurückführte. Die Landwirte hätten kein Interesse, ihre Produkte bei den Behörden abzuliefern, da sie im Schleichhandel, wo sich angeblich auch ein Teil der Arbeiter versorgte, wesentlich mehr verdienen könnten. Die Denkschrift plädierte für eine Preiserhöhung bei Nahrungsmitteln „auf der ganzen Linie“.205 Reusch stimmte der Empfehlung zu, machte nur eine Einschränkung bei der Fleischpreisen. Als im Frühjahr die Brotrationen eingeschränkt werden mussten, drängte er auf eine Kompensation durch erhöhte Kartoffelrationen. Eine Preiserhöhung sei dafür unumgänglich, „um möglichst viel Kartoffeln aus der Landbevölkerung herauszuholen“. Notfalls müssten jedoch die Industriebezirke bei der Zuteilung bevorzugt werden, denn: „In mittleren und kleineren Städten sind Unruhen nicht zu befürchten und, wenn sie ausbrechen, von keiner Bedeutung. Unruhen in den ganz großen Städten und Industriebezirken sind weniger harmloser Natur und müssen unter allen Umständen vermieden werden.“206
Die „Unruhen“ und Streiks waren im Ruhrgebiet und in Berlin seit Jahresanfang im Gang. Unter den GHH-Zechen rumorte es vor allem auf der an Bottrop grenzenden Zeche Jacobi. Das Gutachten des Herrn Edler von Braun lag also zu einem Zeitpunkt auf dem Tisch, als die seit Langem desolate Ernährungssituation im Frühjahr 1917 einen weiteren Tiefpunkt erreichte. Die Forderung nach Preisfreigabe bzw. Erhöhung der Preise, ganz im Sinne der adeligen Großgrundbesitzer, musste die sozialen Spannungen weiter anheizen. Reuschs Eintreten für eine Preiserhöhung bei Nahrungsmitteln passt zu seinen jahrelangen Anstrengungen schon vor dem Krieg, das Bündnis zwischen Schwerindustrie und Landwirtschaft, zwischen Schlot-Baronen und Junkern, möglichst eng zusammen zu schmieden.
Folgerichtig widersprach er seinem württembergischen Freund Wieland, als dieser den Präsidenten des KEA, Freiherrn von Batocki, heftig kritisierte, weil dieser es nicht wage, den ostelbischen Großagrariern „zu Leibe zu gehen“.207 Dabei hielt Reusch selbst nicht viel von Batocki. Der Stil seiner zahlreichen Schreiben an den ersten Präsidenten des KEA Adolf von Batocki war unverhüllt herablassend. Als dieser im Frühjahr 1917 von Wilhelm von Waldow, einem erzkonservativen Lobbyisten der großagrarisch-ostelbischen Adeligen, abgelöst wurde,208 muss dies ganz in Reuschs Sinne gewesen sein.
Das Kriegsernährungsamt hatte im Chaos der nebeneinander und gegeneinander arbeitenden Bürokratien wenig ausrichten können.209 Zwar waren zumindest die Schwerarbeiterzulagen, teilweise auf Reuschs Betreiben hin, erhöht worden. Doch insgesamt konnte eine punktuell bessere Verteilung das Kernproblem des Mangels an Lebensmitteln nicht lösen.210 Aber Reusch weigerte sich hartnäckig, die Ursache der Katastrophe zur Kenntnis zu nehmen, und konnte deshalb mit der Flut seiner – teilweise abstrusen – Vorschläge keine Lösung anbieten. Als sich die Hungerkatastrophe in der zweiten Kriegshälfte verschärfte, wurden für die Arbeiter die zwei Seiten einer Medaille sichtbar: Hier Hunger und unbeschreibliches Kriegselend für die Massen, dort schamlose Gewinnsucht gepaart mit Unfähigkeit, die Grundversorgung mit Lebensmitteln auch nur ansatzweise sicherzustellen.
Das Ende des „Burgfriedens“
In dieser Situation zerbrach der 1914 ausgerufene „Burgfrieden“. Die Empörung der Arbeiter machte sich schon seit dem Spätsommer 1916, verstärkt aber seit Januar 1917 in Streiks Luft. Dabei spielte es wohl auch eine Rolle, dass sich der rechtliche Rahmen durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz verändert hatte. Im Gegensatz zu den Herren an der Ruhr wussten Reichskanzler Bethmann Hollweg, das Kriegsministerium und vor allem das Kriegsamt unter General Groeners Führung, dass sie den Arbeitern in der Rüstungsindustrie Zugeständnisse machen mussten, um die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten. Dies wurde im Vaterländischen Hilfsdienstgesetz berücksichtigt. Besonders die neu eingerichteten Arbeiterausschüsse in den großen Betrieben pochten ab 1917 auf ihre Mitspracherechte. Die Arbeitgeberorganisation „Arbeitnordwest“ bekam es ab dem Frühjahr 1917 mit sehr selbstbewussten Gewerkschaften zu tun. Reusch spielte bei den sich verschärfenden Arbeitskämpfen auf Unternehmerseite zunächst keine zentrale Rolle. Innerhalb des GHH-Konzerns ließ er jedoch keine Zweifel daran aufkommen, wer „Herr im Hause“ war. Nebenbei wurde bei den Arbeitskämpfen im Frühjahr 1917 erneut deutlich, an welch kurzem Zügel Reusch seinen Vorstand führte. Sein Stellvertreter Woltmann holte auch bei Detailentscheidungen immer erst das Plazet seines ständig durch Deutschland reisenden Chefs ein.
Besonders erhellend – auch wegen des in Deutschland gängigen Sprichworts („Mit Speck fängt man Mäuse.“) – war die Strategie, in den Betrieben der GHH Speckzuteilungen ganz gezielt zur Beruhigung und Streikvermeidung einzusetzen. Die Vorgänge auf den beiden großen Zechen der GHH in Osterfeld im April 1917 sollen wegen ihrer exemplarischen Bedeutung deshalb ganz nah an den Quellen nachgezeichnet werden.
Solange es auf den GHH-Zechen ruhig blieb, ließ Reusch den Speck zurückhalten. Es ist anzunehmen, dass diese Vorgehensweise mit den Berliner Behörden abgesprochen war, da er sich Mitte April 1917 mit General Groener und dem Präsidenten des Kriegsernährungsamtes Freiherrn von Batocki traf, wobei es anscheinend in erster Linie um die Unterbindung des Schmuggels und des Schleichhandels ging. Auf welchen Wegen allerdings die Betriebsleitung der GHH sich den Speck besorgt hatte – es kann sich ja nicht um kleine Mengen gehandelt haben –, muss offen bleiben. Reusch benutzte für seine Anordnung, den Speck unter Verschluss zu halten, ganz stilvoll den Kopfbogen des „Russischen Hofes“ in Berlin – eines Hauses, das sich auch in diesen Steckrübenwintern seiner „anerkannt vorzüglichen Küche“ rühmte.211 Drei Tage später, als in Berlin am 16. April über 200.000 Arbeiter in den Streik traten und gleichzeitig ein Massenstreik in Leipzig für den folgenden Tag angekündigt war, hielt er sich in Stuttgart auf. Regierung und Militärbehörden wollten diese Massenbewegung zunächst durch Zugeständnisse ins Leere laufen lassen, schwenkten aber auf eine ganz harte Linie ein, als die Berliner Arbeiter die in Leipzig formulierten politischen Forderungen übernahmen.212
Abb. 12:Speckverteilung: Originalschreiben auf Kopfbogen des Russischen Hofs, in: RWWA 130-300193003/7
Abb. 13:Telegramm aus Stuttgart, in: RWWA 130-300193003/7
Reusch machte sich von Stuttgart aus über die weiche Welle der Behörden in Berlin lustig; diese seien „in den letzten Tagen sehr nervös gewesen“, weil sie einen Generalstreik befürchteten. Er habe aber „den maßgebenden Herren in Berlin gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass [er] für den Westen keine diesbezüglichen Befürchtungen hege“.213 Woltmann konnte sofort per Telegramm bestätigen, dass im Ruhrrevier alles ruhig sei; was die Betriebe der GHH anging, so gebe es nur auf der Zeche Jacobi gewisse „Schwierigkeiten“.214 Trotzdem drängte Reuschs Stellvertreter, u. a. zuständig für die betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen, auf Zugeständnisse: „Die Sonderzuteilung von Speck ist den Bergarbeitern in der vorigen Woche aufgrund unserer Besprechung zugesagt. Diese Zuteilung bildete eins der Mittel, um die Arbeiterschaft in dieser Woche ruhig zu halten. Wir müssen daher den Speck unbedingt in dieser Woche verteilen.“ Denn die Lage war in Osterfeld, das an das unruhige Bottrop СКАЧАТЬ