Название: Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch
Автор: Peter Langer
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783874683913
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Die Berufung ins KEA, die Reusch ab 1916 jeden Monat mehrere Tage in Berlin festhielt, trug vermutlich dazu bei, dass sein Antrag auf Freistellung seines Stellvertreters Woltmann im Sommer 1916 Erfolg hatte. Woltmann war direkt zu Kriegsbeginn als Offizier zunächst ins Elsass und später an die Ostfront geschickt worden.152 Nach seiner Rückkehr musste er jede Woche jeweils samstags über die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln in den Werken der GHH berichten. Speziell wollte Reusch wissen, wie die Brotzusatzkarten verteilt wurden und welche Sicherungen es gegen Missbrauch gab.153 Noch im letzten Kriegsjahr verlangte er von seinem Stellvertreter genaue Aufstellungen über die Ernährungssituation, um so den Schleichhandel besser bekämpfen zu können.154 Zwei Dinge machen diese Schreiben deutlich: Der Konzernherr war über die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln gut informiert, von Anfang an allerdings witterte er überall Missbrauch.
Obwohl er zunächst Vorbehalte gegen die Übernahme dieses Amtes geltend gemacht hatte – er sei in seiner Firma sehr stark in Anspruch genommen und habe überdies schon viele Ehrenämter – engagierte er sich sofort mit diversen eigenen Vorschlägen. Dabei mischte er sich teilweise in Detailfragen ein auf Gebieten, wo er nicht unbedingt überlegenen Sachverstand für sich in Anspruch nehmen konnte. Feldman verweist in seinem bereits mehrfach zitierten Aufsatz auch auf Reuschs Tätigkeit im Kriegsernährungsamt, wenn er ihn als einen der ganz wenigen Industriellen charakterisiert, der gegen „die wachsenden wirtschaftlichen Verwerfungen, die moralische Verwilderung und den Zusammenbruch der Autorität als Folge des Krieges“155 Front machte. Reusch habe versucht, „seine Kollegen davon abzuhalten, Nahrungsmittel für ihre Fabriken auf dem Schwarzmarkt zu besorgen, da dies zum völligen Zusammenbruch der Rationierung der Nahrungsmittelversorgung führen würde“.156 Vermutlich bezieht sich Feldman dabei auf den kurzen Wortwechsel Reuschs mit Bayer-Chef Duisberg bei einer Konferenz im Kriegsministerium.157 Als alleinige Grundlage für eine derart allgemeine Charakterisierung kann diese Szene aber kaum herangezogen werden. Vielmehr sind seine Aktivitäten im KEA insgesamt am Ausmaß des objektiven Mangels und der Not der Arbeiter zu messen.
Reusch profilierte sich im KEA teils mit recht skurrilen Vorschlägen. Ob seine Kollegen die Ferkel-Aktion der GHH für so nachahmenswert hielten, wie Reusch sie darstellte, wissen wir nicht: In der letzten Maiwoche 1916 waren 120 Ferkel an Arbeiter verteilt worden; wenn diese vor dem 1. Oktober geschlachtet wurden, war ein Kaufpreis von 30 Mark fällig; wenn die Schweine am Erntedankfest noch lebten, brauchten die Arbeiter sie nicht zu bezahlen.158 Die erzieherische Absicht war unverkennbar: Es sollte signalisiert werden, dass im Prinzip genug Nahrungsmittel da waren, wenn jeder sorgsam und vorausschauend damit umging.
Einen Tag später machte Reusch den Vorschlag, durch „Kaufzwang“ bei bestimmten Geschäften die langen Schlangen vor den Lebensmittelläden zu vermeiden. Für Reusch bestand „kein Zweifel, dass das stundenlange, häufig vergebliche Warten vor Lebensmittelgeschäften die Hauptursache der Unzufriedenheit in den Kreisen der Bevölkerung“ sei. Er verstieg sich zu folgender Behauptung: „Mit der Tatsache des Ernährungsmittel-Mangels wird sich die Bevölkerung viel eher abfinden, wenn durch entsprechende Organisation des Lebensmittelverkaufs die Butter-, Eier- und sonstigen Polonaisen verschwunden sind.“159 Wohl um zu unterstreichen, dass er die Ursache für Lebensmittelmangel und Unzufriedenheit primär in Fehlern bei der Verteilung sah, stellte Reusch dem Präsidenten des Kriegsernährungsamtes am gleichen Tage die Ernte-Statistik aus dem statistischen Büro der GHH zur Verfügung.160
Was die Molkereibutter anging, so glaubte er, dass die Behörden nicht sofort 50% beschlagnahmen durften; vielmehr müsse man stufenweise vorgehen.161 Einige Tage später regte er beim Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen an, die Kartoffeln auf den Schulhöfen zu verteilen, damit durch die langen Schlangen vor den Geschäften der Verkehr nicht gestört würde. Der Oberbürgermeister reagierte mit dem trockenen Hinweis, dass die Kartoffelverteilung bisher immer gut funktioniert habe.162
Auf der Tagesordnung der Vorstandssitzung des KEA am 30. und 31. Mai 1916 stand die Versorgung mit Brotkorn, Kartoffeln, Fleisch, Zucker und Fett. Es dürfte sich bei dieser Sitzung wohl kaum ausschließlich um das mangelhafte Funktionieren der Verteilung gehandelt haben, sondern auch um die Tatsache, dass die Menschen hungerten, weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel produziert bzw. importiert wurden.163 Reusch beharrte aber in den folgenden Monaten hartnäckig auf seinem Standpunkt, dass im Prinzip genügend Nahrungsmittel vorhanden waren, sofern man nur verstand, sie richtig zu verteilen.
Auch über die Rationen der Industriearbeiter wusste Reusch gut bescheid: Die Brotration für unter Tage Arbeitende betrug 250 Gramm, also 1.750 Gramm pro Woche. Für Schwerarbeiter gab es pro Woche 1.000 Gramm zusätzlich, also insgesamt 2.750 Gramm Brot. Für je vier Überstunden erhielten die Bergarbeiter 250 Gramm hinzu.164 Diese kärglichen Rationen schienen jedoch weniger Anlass zu Klagen zu geben als der Mangel an Fett und Kartoffeln und generell die steigenden Preise. Dem Kriegsernährungsamt lagen Anfang Juni 1916 mehrere Beschwerden über diese Probleme vor. Hinzu kam die Kritik von den Gewerkschaften, dass nach der Einführung einer Kinderzulage prompt die Löhne gesenkt worden seien und dass in den Betrieben Lebensmittel bevorzugt an die Mitglieder der „gelben“ Gewerkschaften verkauft würden. Reusch berichtete dem Verein für bergbauliche Interessen über diese Beschwerden und kündigte an, dass er der Sache nachgehen werde.165
Die wohl umfassendste Übersicht über die Ernährungsprobleme im Sommer 1916 ist dem Bericht über eine Sitzung am 9. Juni im Düsseldorfer Regierungsgebäude zu entnehmen. Neben Reusch waren „außer dem stellvertretenden Herrn kommandierenden General die sämtlichen Herren Landräte und Oberbürgermeister des Regierungsbezirks Düsseldorf“ anwesend. An erster Stelle standen die Klagen über den Kartoffelmangel, der zu der einmütigen Forderung führte, die gesamte Ernte zu beschlagnahmen. Dadurch wollte man Händlern, die in einigen Regionen anscheinend sehr aktiv waren, zuvorkommen. Die Forderung, das Brennen von Schnaps aus Kartoffeln zu verbieten, wurde allerdings „mit Rücksicht auf den Bedarf des Heeres an Spiritus zurückgewiesen“. Sehr heftig wurde der undurchsichtige Verteilungsschlüssel für Fett und Butter kritisiert. Bei den Garnisonen gab es anscheinend große Mengen an lebendem Vieh, da z. B. dem Generalkommando in Münster doppelt soviel Fleisch zugewiesen worden war, wie ursprünglich angefordert. Die Teilnehmer der Sitzung forderten die Einschränkung des Fleischverzehrs bei den Soldaten. Besonders scharfe Kritik richtete sich gegen die chaotische Versorgung der Bevölkerung mit Eiern und Käse. Der General aus Münster beschwerte sich über die hohen Preise der aus Holland eingeführten Milchkühe. Da diese Kühe bei Preisen bis zu 2.000 Mark keine Abnehmer fänden, habe die Militärverwaltung sie als Schlachtvieh übernehmen müssen. Schließlich wurde von Seiten der Oberbürgermeister dringend darum gebeten, Beschlüsse des Kriegsernährungsamtes erst dann zu veröffentlichen, wenn sie auch „in die Tat umgesetzt“ werden konnten, da sonst die Rathäuser sofort „von der Bevölkerung belagert würden“.166
Es scheint bei dieser Sitzung weitere Informationen oder Gerüchte gegeben zu haben, die nicht Eingang in den schriftlichen Bericht fanden. Reusch nahm sie zum Anlass, sich noch am gleichen Tag an Generalmajor Groener zu wenden. Es werde gemunkelt, dass es in den Gefangenenlagern große Mengen an Speck gebe. Der Generalmajor möge das prüfen und eventuell Teile der Speck-Vorräte für die Bevölkerung abzweigen. In einem weiteren Schreiben vom gleichen Tage wies er Groener darauf hin, dass die Lebensmittelknappheit im Revier durch die große Zahl der Verwundeten in den Krankenhäusern noch verschärft werde. Er bat darum, keine weiteren Verwundeten ins Ruhrgebiet zu bringen und die Rekonvaleszenten in andere Gebiete Deutschlands zu verlegen.167
Auch die Vorstandssitzung des Kriegsernährungsamtes, elf Tage nach der Konferenz beim Regierungspräsidenten, am 20. Juni 1916 wurde nach Düsseldorf einberufen. Reusch schlug nicht nur, wie bei anderen Sitzungen auch, eine komplette Tagesordnung vor, sondern war eifrig bemüht, daraus СКАЧАТЬ