Nun ist es der Vertreter des Justizministeriums, der als Erster antwortet. Die Einrichtung der Gacaca-Justiz sei ein schwieriges und daher langwieriges Unterfangen, sagt er. Er geht auf den Aufbau der Gerichte ein, auf die Rolle der Richter und die verschiedenen Verfahrensstufen. »Gerechtigkeit herzustellen ist nun mal nicht einfach. Auf allen Ebenen müssen viele aktiv werden, damit das Ziel erreicht werden kann. Willkür, zum Beispiel in Form von Beschlagnahmungen ohne rechtliche Grundlage, darf es dabei nicht geben. Die Gesetze gelten für alle, ausnahmslos.« Der Gacaca-Vertreter der Provinz wendet sich direkt an die älteren Gefangenen und antwortet auf ihre Fragen mit einer Gegenfrage. Ob sie denn wirklich glaubten, dass die alten und die jungen Gefangenen einfach so freigelassen werden könnten. »Du und du und du«, er zeigt auf zwei ältere und einen jüngeren Gefangenen, »ihr seid auch zu eurer eigenen Sicherheit hier. Viele Überlebende oder Angehörige von Opfern wollen sich rächen. Wenn wir euch freiließen, ohne dass eure Unschuld feststeht, wärt ihr in Gefahr, und das wollen wir vermeiden. Ich weiß, es ist schwierig, die eigene Unschuld zu beweisen, weil es oft keine Zeugen gibt. Aber wir werden für jeden Häftling eine Akte anlegen und so, systematisch, die Wahrheit herausbekommen.«
Mit diesen Worten endet nach etwa zwei Stunden die Veranstaltung. Die Gefangenen klatschen höflich, als die Gefängnisleiterin sich bei den Staatsvertretern für deren Kommen bedankt, und verlassen den Lagerraum. Die meisten schweigen, einige fragen sich leise murmelnd, wann die angekündigten Verfahren endlich anfangen. Den zwei Faltblättern, die draußen verteilt werden, eines über die Vorteile von Geständnissen, ein anderes, das mit Zeichnungen und szenischen Darstellungen versehen ist, über die verschiedenen Phasen eines Gacaca-Verfahrens, wird kaum Beachtung geschenkt. Gleichgültig werden sie entgegengenommen. Die Gefängnisleiterin bedankt sich bei mir für mein Interesse an der Aufarbeitung des Völkermords. Jederzeit könne ich wiederkommen, Erfahrungen aus Deutschland seien willkommen. Auf meine letzte Frage, wie viele Gefangene denn schon gestanden hätten, erwidert sie, dass bis jetzt noch kein Gefangener gestanden habe. »Ich verstehe das auch nicht, es können doch nicht alle unschuldig sein«, sagt sie noch.
Vermutlich hat die Gefängnisleiterin recht. Dass keine Gefangene, kein Gefangener eine Tat, die verbrecherisch sein kann, begangen haben soll, ist eher unwahrscheinlich. Doch wie können sie, oder zumindest eine nennenswerte Anzahl von ihnen, dazu bewegt werden, von den Taten zu sprechen, vielleicht sogar die eigene Tatbeteiligung einzugestehen? Was sollte, diesseits der Ebene unterschiedlichster individualpsychologischer Dispositionen, geschehen, damit auch aufseiten der Täter eine aktiv betriebene Vergangenheitsaufarbeitung möglich ist? Und, diesen Überlegungen vorangestellt und allgemeiner: Warum ist es überhaupt von Bedeutung, diesen Fragen am ruandischen Beispiel nachzugehen? Welches kann und sollte das Ziel einer von außen kommenden Beschäftigung mit dem Völkermord in Ruanda sein?
1.1 Ferne Verbrechen und Formen des legitimen Umgangs damit
Sich über das Verhältnis von Verbrechen, die in anderen Ländern begangen werden, und über unsere angemessene Reaktion darauf Gedanken zu machen, legt nahe, mit Immanuel Kant zu beginnen. In seiner 1795 erschienenen Schrift »Zum ewigen Frieden« findet sich die folgende Passage:
»Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.«3
Die Passage steht am Ende des dritten und letzten der Definitivartikel, die einen dauerhaften Frieden gewährleisten sollen, und sie steht dort ziemlich unvermittelt. Überschrieben ist der Artikel mit »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein«, und in dieser Formulierung ist er die nach Kant logische Folgerung aus den kritikwürdigen Zuständen im europäischen Kolonialismus. Zwar habe »ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht […] als der andere«, doch hätten europäische Nationen ihr Besuchsrecht bei fremden Ländern und Völkern auf schreckliche Weise missbraucht, da der Besuch durchweg zu einer Eroberung geworden sei, die allerlei Übel gezeitigt habe.4 Begleitet worden seien die Verstöße gegen das Hospitalitätsrecht von einer selbstgerechten Arroganz der Eroberer,5 wobei – das sagt Kant nicht, muss aber aus Gründen der inhaltlichen Verbindung zur zitierten Textpassage gedanklich hinzugefügt werden – das eine wie das andere umso schärfer ins Auge fällt, als sich im Rahmen der kolonialen Expansion eine globale öffentliche Sphäre herausgebildet hat, in der derartige Missstände bekannt gemacht werden können. Die Welt ist enger zusammengerückt, eine »im Entstehen begriffene Infrastruktur der Nachrichtenübermittlung« führt dazu, dass Rechtsverletzungen nicht nur mitgeteilt werden können, sondern die europäischen Bevölkerungen darüber hinaus mit den Entrechteten mitzufühlen in der Lage sind.6
In der Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts war dies eine naturgemäß utopische Vision. Ein Weltbürgerrecht über die kommunikative Kraft des wechselseitigen Wissens zu konstruieren, in diesen Kontext auch eine wachsende Beachtung von Menschenrechten zu stellen und aus beidem die beständige Annäherung an einen sich ausbreitenden Friedenszustand zu folgern, weist weit über den damaligen Status quo hinaus. Noch waren die Staaten die einzigen Rechtssubjekte, war ihre Souveränität nach innen ein Freibrief für den Umgang mit der eigenen Bevölkerung, wie ihre Souveränität nach außen dem Machtstreben freien Lauf ließ, einschließlich des Rechts der freien Kriegführung. Dass Menschen Individuen mit auch völkerrechtlich zu beachtenden Rechten sind, dass eine Verletzung dieser Rechte zugleich eine Verletzung fundamentaler Normen darstellt, auf die, eben weil sie die »öffentlichen Menschenrechte« betreffen, reagiert werden muss, war eine Vorstellung, die sich keineswegs in der Realität spiegelte.7 Und daran sollte sich auch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nichts ändern.
Mittlerweile umfasst die durch die Änderung im 20. Jahrhundert angestoßene Entwicklung schon viele Jahrzehnte. Wenn auch der Staat immer noch das primäre Völkerrechtssubjekt ist, so ist der individuelle Mensch ihm längst nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Er hat ganz im Gegenteil insofern ebenfalls den Status eines Völkerrechtssubjekts erhalten, als eine Reihe von Völkerrechtsverträgen Staaten zur Beachtung der Menschenrechte verpflichten, deren wichtigste gewohnheitsrechtliche und sogar zwingend verpflichtende Rechtskraft haben. Um seine Ansprüche gegen die rechtsverletzende Staatsmacht durchzusetzen, kann das Individuum heute vor internationalen Instanzen rechtliche Schritte unternehmen und erforderlichenfalls Klage einreichen, es kann aber auch wegen der Verletzung internationaler Normen namentlich aus dem Bereich des Völkerstrafrechts vor Gericht gestellt und verurteilt werden.8 Beides zusammen hat aus den Rechten, die dem Menschen kraft seiner Menschheit zustehen (ob unmittelbar wie beim Recht der Menschenrechte oder, wegen seiner anderen Zielrichtung, mittelbar wie beim humanitären Völkerrecht) eine immer präzisere Kategorie für rechtliches und politisches Handeln gemacht. Menschenrechte haben eine universelle Evidenz gewonnen,9 die den ihr zugrunde liegenden normativen Bestand im Staats- und Völkerrecht zu einem öffentlichen Menschenrecht im Sinne Kants vereint. Und was den »ewigen Frieden« anbelangt, der unter diesen Umständen näher rücken soll, so ist tatsächlich festzustellen, dass die Welt in den zurückliegenden Jahrzehnten friedlicher geworden ist. Gefühlt mag es eine Zunahme an Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben haben, faktisch ist jedoch die Zahl zwischenstaatlicher und innerstaatlicher bewaffneter СКАЧАТЬ