Название: Ruanda
Автор: Gerd Hankel
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783866744875
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Damit kann an dieser Stelle festgehalten werden: Der aktuelle Rechtszustand scheint die Beobachtung Kants zu beglaubigen. Deren Plausibilität ist derart, dass nicht erkennbar ist, mit welchen durchschlagenden Argumenten (die hauptsächlich der Schule des politischen Realismus entstammen) sie angegriffen und beseitigt werden kann.12 Die Existenz machtpolitischer Realitäten und fragwürdiger Allianzen ändert nichts daran, dass es weltweit einen Mindestbestand gemeinsamer Rechtsüberzeugungen mit einem strafbewehrten Schutz gibt. Von den 193 UN-Mitgliedstaaten sind 124 dem Römischen Statut beigetreten, weitere 28 haben das Statut unterzeichnet, stimmen folglich seinem Inhalt zu und planen einen Beitritt. Und die 41 Staaten, die das Statut bislang noch ablehnen (Stand: März 2016), verweisen zur Begründung nicht etwa auf ihre Opposition gegen den bestimmten Taten unterstellten Unrechtshalt, sondern sie befürchten eine zu große Beschneidung ihrer nationalen Souveränität, sollten eigene Staatsangehörige vor dem Internationalen Strafgerichtshof erscheinen müssen. Im Ergebnis heißt das, de lege lata machen das Völkerrecht und, dadurch beeinflusst, das einzelstaatliche Recht massive Rechtsverletzungen »an allen Plätzen« der Welt fühlbar.
Wie aber kann das, was theoretisch möglich ist, in die Praxis umgesetzt werden? Wie – und mit welcher Folge – kann und soll eine Rechtsverletzung von der internationalen öffentlichen Meinung wahrgenommen werden? Was sind also, um die Überschrift dieses Abschnitts noch einmal aufzugreifen, Formen des legitimen Umgangs mit fernen Verbrechen?
Eine nahe liegende Antwort dürfte lauten: Sie müssen zunächst einmal publik gemacht werden. Ohne Informationen über das Geschehene ist dessen Einordnung und Bewertung nicht möglich. Ein klassisches und vielleicht auch erstes Beispiel hierfür ist die Berichterstattung des britischen Korrespondenten William Howard Russell von den größeren Kriegsschauplätzen des 19. Jahrhunderts. In die zeitgenössische Berichterstattung, die, militärischen oder patriotischen Interessen gehorchend, auch an Massakern nichts Anstößiges fand, sofern sie den proklamierten Kriegszielen dienten, mischte sich bei ihm ein deutlicher Ton der Entrüstung über den Einsatz zügelloser Gewalt. »Sowie die aufständischen Sepoys und all jene, die tatsächlich die Waffe gegen uns erhoben haben, bestraft worden sind«, schrieb er 1858 über die Bekämpfung des indischen Aufstands in der Times, »muß das rücksichtslose Blutvergießen aufhören – sollen die aufgebrachten Zivilisten Britisch-Indiens sagen, was sie wollen. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, gar Vergeltung muß nach einer gewissen Zeit gestillt sein. […] ganze Distrikte zu bestrafen, weil dort Missetaten verübt wurden oder weil feindliche Truppen dort ihr Lager errichtet haben, ist ebenso ungerecht wie unklug.«13
Was vorher bildlich transportiert worden war – man denke an die Darstellung der unerbittlichen Dynamik von Kriegsgewalt in den Radierungen Jacques Callots oder der sadistischen Grausamkeiten einer entfesselten Soldateska in den Zeichnungen Francisco de Goyas –14 hat Russell in eine sprachliche Botschaft gekleidet, die, wahrheitsgemäß und um den eigenen moralischen Standpunkt besorgt, ein möglichst großes Lesepublikum erreichen wollte. Seitdem hat es eine zunehmend engere Verbindung zwischen verbalen und visuellen Formen der Berichterstattung über entferntes Geschehen gegeben, das als eklatant normwidrig empfunden wurde. Während des Ersten Weltkriegs noch durch Text und Foto, während des Zweiten Weltkriegs schon durch Film und kommentierenden Text, in den folgenden zwischen- und binnenstaatlichen Kriegen durch einen technisch immer ausgefeilteren medialen Mix – Rechtsverstöße wurden mitgeteilt beziehungsweise angeprangert (von der jeweils anderen Kriegspartei), Bewertungen wurden nahe gelegt beziehungsweise vorgegeben.15 Inzwischen scheint es so zu sein, dass die bloße Textmitteilung entsprechende bildhafte Assoziationen freisetzt, wie umgekehrt auch rein bildliche Darstellungen einen entsprechend eindeutigen Text zu erzählen vermögen. Fast könnte man sagen, der zeitgenössische Mensch erkennt ein Verbrechen, wenn er es sieht oder wenn er von ihm hört. Vermutlich kann auch unterstellt werden, dass er um die subjektive Beeinflussbarkeit der Informationsübermittlung weiß (von der technischen ganz zu schweigen). Doch selbst wenn Propagandazwecke verfolgt oder nach der Devise »If it bleeds, it leads« das Verlangen nach Schauergeschichten befriedigt werden, schon die Veröffentlichung derartiger Informationen sind, abgesehen von den seltenen Fällen ihrer puren Erfindung, Referenzzeichen stattgefundener Gewalt, zumindest aber Spuren einer tödlichen Realität.16 Das trifft im Übrigen auch auf die Fälle zu, in denen zu oberflächlich berichtet wird, weil der Beobachtungspunkt zu weit vom Geschehen entfernt liegt. Den afrikanischen Kontinent von hauptsächlich drei Standorten aus (Kairo, Nairobi, Johannesburg respektive Kapstadt) journalistisch zu betreuen, birgt leicht die Gefahr in sich, reale Handlungsabläufe, die sich in großer Entfernung von dort an entlegenen Orten abspielen, nicht richtig zu erfassen.17 Aus der Welt ist das tatsächliche Geschehen aber dennoch nicht, es wartet gewissermaßen nur auf seine vollständige Erfassung und Bekanntgabe.
Die Reporterin Janine di Giovanni, die in den vergangenen zwanzig Jahren aus vielen Krisengebieten berichtet hat, bemerkte vor einiger Zeit zu ihrem Berufsverständnis: »Ich glaubte damals (und tue es gelegentlich noch heute), dass das, was man schreibt oder fotografiert oder filmt, manchmal einen Menschen erreicht und etwas bewirkt.«18 Damals, als sie noch uneingeschränkt an ihre Arbeit glaubte, das war 1993, das Jahr, in dem der Bosnienkrieg noch grausamer wurde und sie darüber berichtete. Seitdem ist der eigene Blick auf die Arbeit nüchterner geworden, ohne dass sich jedoch Resignation breit gemacht hätte. Die Hoffnung, gehört zu werden, eine Reaktion hervorzurufen, besteht noch, wenn auch nicht mehr fortwährend. Und so gesehen bewegt sie sich auf der Höhe der Möglichkeit, etwas zu bewirken, die eben auch keine laufend existierende Gewissheit ist. Echte Empfindung, »wirkliche Leidenschaft, die zu Taten aufrüttelt«, stellen sich nicht von allein ein. Sie bedürfen eines gelungenen Anstoßes.19
Damit komme ich zu einer weiteren Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem legitimen Umgang mit fernen Verbrechen. Die Nachricht von ihnen sollte auf eine Weise in die Welt gesetzt werden, die über das Erkennen der Nachricht hinaus sinnvolle Konsequenzen möglich macht. »Making Sense of Mass Atrocity« lautet der Titel eines Buches, das sich mit solchen Konsequenzen beschäftigt.20 Angesichts des Leids der Opfer mag das beinahe brutal-nüchtern und instrumentell klingen, nichtsdestoweniger trifft es den Kern dessen, worum es geht. Wiedergutmachen, wie es der einschlägige englische Begriff »reparation« nahe legt,21 lässt sich das erlittene Leid nicht mehr. Menschen sind getötet oder verletzt worden, das ist Teil der Realität und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Allerdings hätte es nicht geschehen dürfen, und das als Handlungsaufforderung zu registrieren ist die Aufgabe der Institutionen, die stellvertretend für alle diejenigen handeln, die ein Verbrechen zu erkennen in der Lage sind. Moralisch gebotene Reaktionen sind hier viele denkbar, angefangen von unmissverständlicher Kritik in den Medien über politischen Druck seitens einzelner Staaten bis hin zu kollektiven Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Und natürlich die Reaktion, die gewöhnlich mit Verbrechen verknüpft ist und ihnen durch Verfahren und Strafzumessung einen konkreten Unwertgehalt zuweist: die der Justiz. Deren Zuständigkeitsbereich hat sich parallel zum Verständnis von Verbrechen, die auch Völkerrechtsverbrechen sind, von der nationalen zur internationalen Gerichtsbarkeit erweitert. Nach allgemeiner Ansicht gilt heute: »Das Opfer einer schweren Verletzung internationaler СКАЧАТЬ