Название: Ins Weiße zielen
Автор: Ricardo Piglia
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783803143297
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Sofía hatte oft gespürt, dass die Geschichte ihrer Familie ein Teil des historischen Erbes der Gegend war – eine rätselhafte Geschichte, die das ganze Dorf kannte und sich immer wieder neu erzählte, aber nie vollständig zu deuten verstand –, und sie war auch nicht sonderlich beunruhigt wegen der vielen unterschiedlichen Versionen und Verfälschungen, denn schließlich bildeten sie einen Teil des Mythos, den sie und ihre Schwester – die beiden Antigones (oder Iphigenien?) dieser Legende – nicht erklären mussten (sie mussten sich »nicht dazu herablassen, ihn zu erklären«, wie sie immer sagte), doch jetzt, in all dem Durcheinander, das das Verbrechen nach sich gezogen hatte, war es möglicherweise angebracht, den Versuch zu unternehmen, die Ereignisse zu rekonstruieren oder »zu verstehen«. Familiengeschichten gleichen sich, hatte sie einmal gesagt, die Personen wiederholen und überlagern sich – es gibt immer einen durchgedrehten Onkel, eine Verliebte, die ihr Leben lang ledig bleibt, es gibt einen Verrückten, einen Ex-Alkoholiker, einen Cousin, der sich auf den Festen gerne als Frau verkleidet, einen Gescheiterten, einen Gewinner, einen Selbstmörder –, doch was die Sache in ihrem Fall komplizierter machte, war die Tatsache, dass sich die Familiengeschichte der Belladonas und die allgemeine Geschichte des Dorfes überlagerten.
»Mein Großvater hat das Dorf gegründet«, sagte sie verächtlich. »Als er ankam, gab es hier nichts außer karger Erde. Die Engländer haben den Bahnhof errichtet und ihn damit betraut.«
Ihr Großvater war in Italien geboren worden, hatte Ingenieurswissenschaften studiert und war Eisenbahntechniker geworden. Als er nach Argentinien kam, brachte man ihn in diese Einöde und ließ ihn mitten auf dem Land an einer Abzweigung stehen, einer Haltestelle, die in Wahrheit nur der Kreuzungspunkt zweier Bahnstrecken war.
»Manchmal glaube ich«, fuhr sie fort, »dass Tony nicht gestorben wäre, wenn mein Großvater in Turin geblieben wäre. Und wenn wir ihm nicht in Atlantic City über den Weg gelaufen wären oder er weiter bei seinen Großeltern in Río Piedras gelebt hätte, wäre er auch nicht getötet worden. Wie nennt man so etwas?«
»Man nennt es das Leben«, antwortete Renzi.
»Platsch!«,8 sagte sie. »Sei nicht so kitschig … Was ist los? Sie haben ihn ausgewählt, sie haben ihn getötet, genau an jenem Tag, genau zu jener Stunde, sie hatten nicht viele Gelegenheiten dazu, begreifst du? So viele Chancen, einen Mann wie ihn zu töten, bekommt man nicht.«
4
DURÁN WURDE TOT auf dem Fußboden seines Hotelzimmers aufgefunden, mit einer Stichwunde in der Brust. Eine Putzfrau hatte ihn entdeckt, als sie das Telefon hinter der Tür klingeln hörte und niemand abnahm. Sie dachte, das Zimmer sei unbewohnt. Es war zwei Uhr nachmittags.
Zur selben Zeit tranken Croce und Saldías einen Wermut in der Hotelbar, so dass sie sich kaum von der Stelle rühren mussten, um mit den Ermittlungen zu beginnen.
»Niemand verlässt das Hotel«, ordnete Croce an. »Wir werden Ihre Aussagen festhalten, dann dürfen Sie gehen.«
Die wenigen Gäste, Handelsreisenden und dauerhaften Bewohner des Hotels saßen in den Ledersesseln im Salon oder standen in Dreier- oder Vierergrüppchen an der Wand und unterhielten sich leise. Saldías hatte an einem Tisch im Büro des Geschäftsführers Platz genommen und rief die Leute nacheinander herein. Er fertigte eine Liste an, notierte sich die persönlichen Daten und Adressen und fragte jeden Einzelnen, wo genau er sich um zwei Uhr nachmittags im Hotel aufgehalten hatte. Dann wies er sie darauf hin, dass sie sich der Polizei weiterhin zur Verfügung halten müssten und dass man sie gegebenenfalls noch einmal als Zeugen vorladen werde. Zum Schluss bat er all jene, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatten oder irgendwelche nützlichen Informationen besaßen, im Speisesaal zu warten. Die Übrigen durften gehen, bis man ihre Hilfe eventuell noch einmal in Anspruch nehmen würde.
»Vier von ihnen haben sich während der Tatzeit in der Nähe von Duráns Zimmer aufgehalten und behaupten, einen Verdächtigen gesehen zu haben. Die werden wir noch einmal genauer befragen müssen.«
»Lass uns gleich damit anfangen …«
Saldías begriff, dass Croce nicht nach oben gehen und die Leiche sehen wollte. Dem Kommissar war das Aussehen der Toten zuwider, dieser sonderbare Ausdruck von Überraschung und Schrecken auf ihren Gesichtern. Er hatte viele Tote in seinem Leben gesehen, zu viele, in allen möglichen Positionen, gestorben an den seltsamsten Todesarten, aber alle hatten sie diesen entsetzten Ausdruck. Er träumte davon, ein Verbrechen aufzuklären, ohne den dazugehörigen Leichnam begutachten zu müssen. Es gibt viel zu viele Leichen, alles ist voll mit ihnen, pflegte er zu sagen.
»Wir müssen hoch«, bemerkte Saldías und führte ein Argument an, das normalerweise Croce vorbrachte: »Bevor wir die Zeugen anhören, sollten wir uns alles angeschaut haben.«
»Natürlich«, entgegnete Croce.
Es war das beste Zimmer des Hotels, da es auf die Straßenecke hinausging und sich etwas abgesondert am Ende des Gangs befand. Durán lag inmitten einer Blutlache auf dem Boden. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd und sah aus, als würde er jeden Moment zu lächeln anfangen, die Augen weit aufgerissen, mit einem starren, angsteinflößenden Blick.
Als Croce und Saldías vor der Leiche stehen blieben, hatten sie das seltsame Gefühl, Komplizen zu sein, so wie es oft geschieht, wenn zwei Männern gemeinsam einen Toten betrachten.
»Wir dürfen ihn nicht berühren«, sagte Croce. »Armer Kerl …«
Er drehte der Leiche den Rücken zu und sah sich aufmerksam den Boden und die Möbel an. An dem Zimmer war nichts Ungewöhnliches, auf den ersten Blick. Er trat ans Fenster, das zum Platz ging, um nachzusehen, was man von der Straße aus erkennen konnte und was man sah, wenn man nach draußen blickte. Wahrscheinlich hatte der Mörder zumindest einen Augenblick lang innegehalten und aus dem Fenster geschaut, um zu prüfen, ob man von draußen beobachten konnte, was in dem Zimmer vor sich ging. Oder dort unten hatte ein Komplize gestanden, der ihm Zeichen machte.
»Er wurde getötet, als er die Tür öffnete.«
»Man hat ihn gestoßen«, sagte Croce, »und dann ging alles ganz schnell. Er hat gesehen, wer ins Zimmer kam, und war überrascht.« Der Kommissar trat näher an den Leichnam heran. »Der Stich war ziemlich tief, sehr präzise, als würde jemand ein Kalb schlachten. Kreolischer Messerstich. Von unten nach oben, die Klinge tief zwischen die Rippen. Er war sofort tot«, sagte er, als erzählte er einen Film nach, den er erst vor kurzem gesehen hatte. »Ohne ein Geräusch. Nur ein leises Stöhnen. Ich bin sicher, dass der Mörder ihn gehalten hat, damit er nicht auf dem Boden aufschlägt. СКАЧАТЬ