Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783627022631

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СКАЧАТЬ in Gesellschaft von einer, zwei oder drei Frauen, im Dirndl, im Kostüm, im Badeanzug, und über eins der Badebilder hielten wir ein Vergrößerungsglas, das Glas, das sonst dazu diente, Garn durch ein Nadelöhr zu fädeln, um mir etwa einen abgerissenen Knopf anzunähen, den außerhalb meines süßen Exils niemand angenäht hätte.

      Der Junge und seine Hüterin stehen auf den Planken der Badeanstalt Seebichel am Schwarzsee. Sie – Jahrgang 1896, Anfang sechzig zu dem Zeitpunkt – in gewagtem Einteiler, die Schulterpartie frei, den Enkel halb vor sich; er, die Hände verschränkt wie zum Gebet, in schwarzer wollener Badehose, abstechend vom hellen Bauch. Und fast milchweiß ist auch die Haut der Frau, die ihn vergöttert, eine ihrer großen Brüste ist unter dem Badeanzug erkennbar, die andere bedeckt der kindliche Kopf, als wäre das runde Gesicht Teil ihres Fleisches. Ebenfalls gut erkennbar: das nasse, angeklatschte Pagenhaar des Jungen, während das Haar seiner Beschützerin wirr absteht – sie fand sich schirch auf dem Foto, nicht eben hübsch, einer ihrer wie aus einer reicheren Welt geretteten Ausdrücke, die in mir, noch vor dem Alemannischen, eine semantische Manifestation geschaffen haben, einen intimen Vokabelschatz (inzwischen nur noch mit der kleinen Schwester von damals geteilt – zwei, denen eins dieser Wörter schon reicht, damit sie mit ihrer unsterblichen Großmutter beim Abendbrot sitzen).

      Wörter, keine Worte, die sich weitergeben ließen ohne eine Geschichte dazu, auch wenn ich sie bei Gelegenheit vor den eigenen Kindern gebraucht habe; die schüttelten dann nur etwas den Kopf, und der Erwachsene war versucht, ihnen ein Verzeichnis der Kleinode aus diesem Sprachschatz zu erstellen, nach dem Alphabet der Erinnerung, einer Reihenfolge, für die es keine Algorithmen gibt, um ihrer Logik beizukommen, höchstens den unterschiedlichen Herzschlag beim Schreiben des einen und anderen Worts. Ein Feudel, so hätte mein Verzeichnis anfangen können, ist ein Lappen, und Potschen sind Hausschuhe; der Römmel ist ein Popel, und Polken ist das Nasebohren. Zippi heißt das Geheimste beim Mädchen, Schwaffl das beim Buben und der Halbschlaf im Sessel heißt bei ihr Tunken, ferner ist Urschel eine blöde Kuh, Hermper die große Nase, dährisch ist schwerhörig, und Hatschen meint langsames Gehen. Lulatsch heißt jeder ab eins achtzig, Nachtkastel jedes kompakte Kind, und ein mageres ist und bleibt ein Krischpirdel, dagegen jedes dicke Mädchen eine Plunzen; wenig nett auch das Wort mirchdeln, gemeint ein Ausdünsten als gesamte Person, und ebenso unfreundlich der Ausdruck HabedieEhre, eine klare Abfuhr, während Abpfirten die Zeremonie der Verabschiedung meint, das Kreuzerlmachen, auf dass man sich wiedersehe. Und wenn meine Hüterin mit mir am Sonntagnachmittag ins Kirchzartener Kino ging, in die Dreisam-Lichtspiele, wir in der fußfreien Reihe saßen auf den teuersten Plätzen für zwei Mark, vor uns auf den billigen die Halbstarken aus der Blechnerei und anderen Betrieben im Dorf, darunter immer auch ein Lulatsch, der für freies Sehen den Platzwechsel erforderlich machte, und alle im Kino auf Peter Alexander und Gunther Philipp oder Sissi, die junge Kaiserin, warteten und endlich das Licht im Saal schwächer wurde, sagte sie, selbst schon etwas dährisch, mit unüberhörbarer Stimme: Also, wenn du noch einmal wiescherln musst, dann jetzt!

      Frühes Beschütztsein durch eine intime Sprache heißt auch, von ihr umschlungen zu bleiben und sich in dieser Fessel zu zeigen: als einer von gestern – das Kopfschütteln der Kinder, wenn ihr Vater bei Gelegenheit auf diese Sprache, nach außen hin zum Spaß, im Grunde aber allen Ernstes zurückgegriffen hatte, war das Kopfschütteln über seine nur lose Verankerung in der Gegenwart; ja, eins dieser Wörter reicht wie ein Geruch von früher, um mit seinem Klang die Gegenwart aufzuheben: Ich sitze auf dem Balkon des einstigen Elternzimmers im Hotel Beau Sejour, weiterhin in milder Sonne, aber bin im Dorf der Kindheit, wo es über Nacht geschneit hat, alles in stillem Weiß liegt; meine Hüterin bindet mir einen Schal um, damit ich mich nicht verkühle, sondern pumperlgesund bleibe – auch zwei ihrer Ausdrücke, verkühlen statt erkälten und die Steigerung von gesund –, und ich eile vors Haus, um mit Doris, der Arzttochter, zu spielen. In der Schule reden wir kaum miteinander, hier aber sind wir ein Paar, seifen uns ein mit dem weißen Pulver, und nachts, im Bett meiner Hüterin, träume ich von Doris und erwache fast mit ihr, während das Frühstück schon am Bett steht, Kakao und eine Semmel mit Wurst.

      Die Weihnachtsferien hatten begonnen, also durfte ich auch unter der Woche in dem Exil bleiben, konnte dort etwa Briefmarken sortieren, die mir mein Vater monatlich zusteckte, oft samt Kuvert, Marken selbst aus fernsten Ländern, Chile, Pakistan oder Indonesien, all den Weltecken, in die er seine medizinischen Apparate zu verkaufen versuchte und aus denen abschlägige oder hinhaltende Antworten gekommen waren. Ich löste die Marken im Wasserbad ab und setzte sie in ein dickes Album (das es noch gibt, oben auf den Seiten, in meiner Kinderschrift, jeweils die Ländernamen). Es war kein Einsortieren nach den Gesichtspunkten der Philatelie, es war eins nur nach Größe und Schönheit, darum finden sich vorn in dem Album Marken aus Formosa, dem heutigen Taiwan, mit bunten Paradiesvögeln, aber vor allem die aus Österreich, viele für ein Alpental werbend, immer mit einer Schönen des Tals als Motiv. Und auf der Zillertalbriefmarke war ein Mädchen, das aussah wie Doris mit seinen weichen Wangen und einem Blick für den, der die abgelöste Marke vorsichtig über der Heizung getrocknet hat, um sie dann unter Glas zu plätten und ihr später einen Platz in dem Album zu geben (den Platz, den sie heute noch innehat). Es war ein Tun im Zustand zwischen Wachen und Träumen, oft ganztägig im Schlafanzug; im Winter brannte auch den ganzen Tag eine Stehlampe im Zimmer, herübergerettet aus ihrem Vorkriegsleben, ebenso ein Porzellanpapagei auf einem Sekretär mit Geheimfächern (verloren gegangen wie alles aus jenem großmütterlichen Reich, bis auf wenige Fotos). Eine sich um den Enkel wölbende Welt war dieses Zimmer und seine Bewohnerin mit ihrem aus der Atmung kommenden Vor-sich-hin-Summen, während er Briefmarken aus ihrem geliebten Österreich in eine Hierarchie der Schönheit brachte; und oft wurde aus dem Summen auch ein Wiener Lied, das Überwechseln in ein paar gesungene Zeilen – mit Worten, die einen Jungen von sieben oder acht bereits ahnen ließen, dass alles Schöne einmal ein trauriges Ende hat.

      Keine meiner Fantasien in diesen Jahren war schlimmer als die vom Tod der so leise Singenden mit einem schwachen Herzen, über das sie gern klagte, auch wenn es sie gar nicht im Stich ließ, ihr eher als Druckmittel zur Seite stand. Mein Vater dagegen klagte kaum über sein fehlendes Bein, und wenn ihn Schmerzen im Stumpf befielen, er bei Tisch Hüpfer auf dem Stuhl machte, die mir Rätsel aufgaben, sagte er dazu kein Wort, während meine Mutter fast täglich von ihrem Ischiasnerv sprach, so überzeugend wie von einem zusätzlichen Körperteil, das aber außer ihr niemand sah. Dieser Nerv war ihr Besitz und war ihr Widersacher, den der kleine Sohn bekämpfen durfte, wenn keine Masseuse zur Verfügung stand; die Leidende lag dann schon im Elternschlafzimmer bereitwillig auf dem Bett, Pullover hochgestreift bis zu den Schulterblättern, Rock geöffnet und leicht nach unten gezogen, damit die noch kindlichen, noch unausgebildeten, aber schon nicht mehr unschuldigen Hände nach Belieben ans Werk gehen konnten.

      Der Körper, in dem man steckt, der eigene, wie es gewöhnlich heißt, ist ein Körper der anderen – mein kindlicher Jungenkörper war besetzt vom Körper des Vaters, wenn wir bastelten oder im Heizkeller Feuer anfachten oder er Auto fuhr und den Motor erklärte, aber auch, wenn er ein Wort zu seinem Holzbein verlor; der zweite Okkupantenkörper war der meiner Mutter, wenn sie mich wusch oder eincremte oder mir einen Schmerz wegstreichelte, aber auch am Badeabend mein verborgenstes Teil nach Lust und Laune benannte. Und der dritte Körper, der mit meinem verschmolz, war der großmütterliche, als hätten wir eine gemeinsame Haut, und ihr problematisches Herz wäre auch meins gewesen, das eines Neunjährigen – ich war in dem Alter, als mein Vater eines Tages mit blinder Wut auf den sogenannten eigenen Körper, den Sohneshintern, einschlug, nachdem mir, auf Verhängung eines Zimmerarrestes hin, etwas aus gewiss nicht heiterem Himmel herausgerutscht war: Die Omi habe ich viel lieber als euch! Der väterliche Ausbruch, einmalig in der Art, war die Wut auf ein Kind, das nicht die Liebe für einen empfand, die man verdient zu haben meinte, indem man eine Firma über Wasser hielt.

      Nicht lange nach dieser Züchtigung traten die Herrin meines sichtbaren Körpers und die Hüterin des verborgenen, meine Mutter und meine Großmutter, eine Zugfahrt nach Wien an, für beide die erste Reise an ihren Sehnsuchtsort nach dem Krieg. Mein Vater und ich brachten sie zum Freiburger Bahnhof, wir lösten Bahnsteigkarten für je zehn Pfennig und begleiteten sie durch die Sperre zum Zug, ich trug das Gepäck ins Abteil und СКАЧАТЬ