Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783627022631

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СКАЧАТЬ und der Vater Himmel und Hölle in Bewegung setzt für seine Apparatebaufirma. Der große Bruder, wie man ihn plötzlich nennt, hat es also gleich mit zwei Fremdkörpern tun, Schwester und Kindermädchen, schuld an der ganzen Veränderung hat aber allein die hinzugekommene Schwester, und so versucht er – obschon er in jedem Kaufladen, in dem die Familie bekannt ist, mit geschwellter Brust erklärt, dass er jetzt eine Schwester habe und damit ein großer Bruder sei –, den Eindringling loszuwerden. Überliefert ist ein Drama, bei dem das Kindermädchen das Schlimmste verhindert haben soll; sie ist beim Einkaufen, nur um die Ecke, aber in der Zeit häuft der Bruder einen Berg Schmutzwäsche auf die Störerin, schnell wird es still im Bettchen, und die Schwester ist schon dem Ersticken nahe, als Hilfe kommt. Die stark kurzsichtige, dafür recht weiblich gebaute Annegret (keine Schönheit, aber eine Type – das großmütterliche Urteil) fühlt sich von da an mehr als verantwortlich für das so knapp gerettete Kind, und die braven Elternleute im verpönten Moorfleet werden für die eigentlichen Eltern zur willkommenen Zweitfamilie. Mal ist die kleine Schwester, wo sie hingehört, viel öfter aber, wo sie nicht hingehört, bis die immer wieder von den einen Eltern zu den anderen Verschobene gar nicht mehr weiß, wo nun ihr richtiges Zuhause ist, und aus diesem Zwiespalt eine Unruhebewegung entwickelt; ganze Stunden gehen Köpfchen und Rumpf vor und zurück, begleitet von den immer selben Lauten. Gogel-Gogel nennen die Erwachsenen dieses Frühzeichen einer Verwahrlosung scherzhaft, und folglich nennt auch der Bruder es so: Sie macht schon wieder Gogel-Gogel, sagt er – und soll auch versucht haben, die Bewegung zu bremsen, ja zu stoppen, vergebens; ein großer Bruder, der nichts für seine kleine Schwester tun kann, außer sie zu bedauern, wofür er erste Blicke von ihr erntet (ich erinnere mich an dieses Gefühl des Bedauerns, auch an die Blicke), und so allmählich anfängt, sie zu vermissen, oder es zu vermissen, dass sie langsam anfängt, ein Auge auf ihn zu werfen. Und damit entwickelt sich der Wunsch, die Schwester in ihrem so ganz anderen, gar nicht paradiesischen Exil zu besuchen.

      Einige Male ist der nun Fünfjährige draußen in Moorfleet, wo es auf einem großen ausgebombten Fabrikgelände in den wenigen unzerstörten Gebäuden provisorische Wohnungen im Erd- und Tiefgeschoss gibt. Diese flachen klinkerroten – ein Rot wie verkrustetes Blut – Fabrikbauten mit ihren geborstenen Fenstern und Gestrüpp auf den Plätzen dazwischen und Schutt, der übergeht in noch genutzte Gebäudeteile, wo die Fenster Vorhänge haben, sind für den, der sonst allein in seinem Zimmer sitzt und Schiffe zeichnet, ein fremder Planet. Es gibt sogar ein Kino auf dem Gelände, in einer länglichen Baracke, die Außenwand beklebt mit Filmplakaten, neuen und alten; Western laufen dort und Liebesfilme, und manch ein Gesicht hängt schon in Fetzen. Der Junge mit Baskenmütze und Mäntelchen sieht Männer mit Revolver und schmalen Augen und Frauen mit roten Lippen und Schlitz im Rock, einen Schenkel entblößt. Er streift umher in der Stille eines Sonntagnachmittags, als die meisten Leute in der Kinobaracke sind, ein Stadtkind, das nach warmer Milch und einem Marmeladenbrot bei den fremden Eltern seiner Schwester allein auf dem Gelände ist, kaum noch in Sichtweite von Annegret, der Type, die erst abends mit ihm zurückfährt. Und so trödelt es zwischen den Halbgebäuden und Trümmern, in der Hand, wie auf der väterlichen Zeichnung, ein Stöckchen, damit peitscht es die Fetzen von den Kinoplakaten, den Gesichtern der Frauen und ihren Röcken, es schlägt die Zeit tot. Bis plötzlich helles, flehentliches Schreien aus dem Fenster einer Kellerwohnung dringt, das eines Mädchens wie ein Ruf an ihn, also schleicht er sich pochenden Herzens an und schnappt ein Wort auf, Hoserunter! Das Fenster ist halb offen, dahinter liegt ein Schlafzimmer, ein Bett steht dort, davor ein Tisch, neben dem Tisch sitzt eine Frau mit Lockenwicklern auf einem Schemel. Der Zeuge tritt noch näher, und endlich sieht er das Mädchen, über den bestrumpften Knien der Frau, wohl ihrer Mutter. Sein Kleid ist in den Rücken geklappt, seine Unterhose ist bis zu den Knöcheln heruntergezogen, und die Mutter schlägt es mit einem Kochlöffel, dass ihre Lockenwickler pendeln. Das Aufklatschen der Hiebe mischt sich mit dem Schreien des Mädchens und der Stimme der Mutter, die jeden ihrer Schläge mitzählt. Ton und Bild sind wie eins, ein einziger Ansturm auf den Zeugen; er sieht zappelnde Füße in Strümpfen und zwei weiße Backen, die sich röten, das umgeklappte Kleid, himmelblau, und blondes Haar. Nur vom Gesicht des Mädchens sieht er nichts, sosehr er sich auch vorwagt, dafür hört er ihr jetzt im Weinen ersticktes Flehen und dann ein Sichfügen in die Bestrafung, nur noch mit Wimmern vor dem nächsten Schlag. Und er achtet auf das Zählen der Mutter, die jede Zahl zwischen den Lippen hervorpresst beim Schlagen, danach gleich wieder ausholt, und zählt leise mit, er kann nicht anders, und macht sich dabei in die Hose. Es geschieht einfach, unaufhaltsam, und das Unaufhaltsame tut sogar gut, ein so heißes Verströmen, dass ihm die Schenkel vor dunkler Wonne zittern, und ist erst niederschmetternd, als er in die Wohnung der Kindermädcheneltern zurückkehrt, dort die Blamage zeigt und wortlos ausgezogen wird.

      Der noch ergriffene, dabei vor Scham glühende Junge – ergriffen wie auf eine Epiphanie hin: der einer strafenden weiblichen Gottheit und ihrem sich fügenden Opfer – wird gewaschen und danach in fremde, viel zu große Hosen gesteckt. So kommt er abends zu den eigenen Eltern, fürchtend, man könnte ihm anmerken, was er gesehen hat, aber man sieht nur eine äußere Folge, das fremde Kleidungsstück mit Flicken, die Travestie des Sohns als kleines, rührendes Proletenkind. Er bleibt allein mit den Bildern aus Moorfleet, fortan ein innerer Film, wenn er schlafen soll, aber wach liegt, unruhig auch, weil immer öfter vom Umzug in eine andere Welt die Rede ist. Und in dieser nervösen Phase des Abschieds, noch in Hamburg, aber schon zwischen gepackten Koffern, während sich der Vater im fernen Schwarzwald nach besseren Bedingungen für seine Firma umsieht, wird der Junge eins mit dem gesichtslosen Mädchen: als er zum ersten Mal selbst Hiebe bekommt und sich in den Rausch einer außer sich geratenen Mutter fügt.

      Der jetzt bald Sechsjährige ist mit seiner jungen Mutter in der Wohnung, er leistet ihr dort still Gesellschaft. Sie geht mit Rollenheft in der Hand auf und ab, murmelt und macht jähe Gesten, er aber möchte auf den Spielplatz hinter den Grindelhochhäusern, um dort im Sandkasten einen Tunnel zu bauen. Darin ist er ein kleiner Meister, das eine und andere Kind hat sogar schon seine kostbaren Murmeln oder Klicker durch die zu einer Seite hin abschüssige Tunnelanlage rollen lassen, der Grabung des fremden Jungen also vertraut, aber Damemammi will nicht, dass ihr Augenstern mit anderen Kindern im Sand wühlt. Wir beiden Hübschen bleiben hübsch zu Hause, danke dem lieben Gott, dass du hier in der warmen Wohnung spielen kannst, sagt sie im Auf-und-ab-Gehen, und da vergisst sich das Unkind (oder ist in dem Moment ganz bei sich): Gott ist ein Arschloch!, schreit es und trifft damit, der Sprache ergeben, ins Schwarze, was augenblicklich einen Tumult auslöst. Auch seine Mutter schreit, das Rollenheft zu Boden werfend, Nimm das zurück!, schreit sie, ja verlangt sogar die Entschuldigung bei ihr, nicht bei Gott. Und als der kleine Gotteslästerer, in sich erstarrt, nur schweigt, reißt sie, wie abgeschaut in Moorfleet, einen Bügel aus dem Schrank, zerrt ihm die Hose herunter und schlägt wild auf ihr Fleisch und Blut ein. Der Gezüchtigte aber hört nur das Klatschen des Kochlöffels auf die Mädchenhinterbacken in der Kellerwohnung und spürt mehr als jeden Schmerz einen Schrecken über die so fremde Mutter, wie in den Minuten, wenn er im Souffleusenkasten saß und sie auf der Bühne eine Szene machte. Dann aber erlahmen die Kräfte der Ungeübten; sie steht nur noch aufgelöst da, den hölzernen Bügel in der Hand, und heißt das Biest von Kind, auf der Stelle ins Bett zu gehen, auf der Stelle zu schlafen! – ein Vorfall mit paradoxem Schlusswort, und fast ein Menschenleben später hat der Sohn einmal den Versuch gewagt, die schon gebrechliche, aber noch wache Mutter daran zu erinnern.

      Bei einem Abendessen zu zweit, einem der letzten noch am Esstisch ihres finalen Appartements mit Balkon und Aussicht auf Vorläufer der Alpen, ging es um die Sternstunden des Lebens, wenn sie etwa Rollen gelernt habe in der Hamburger Wohnung, während der kleine Sohn still vor sich hin spielte und das Töchterchen schlief. Es war ein Essen, das der alte Sohn samt gutem Wein in einem nahen Feinkostladen besorgt hatte, und nach dem ersten Glas gab es einen Moment ihres Interesses an einem Beitrag auch des Besuchers an der Unterhaltung, und da sprach er von der Spannung zwischen ihrem Wunsch, als Schauspielerin Erfolg zu haben, und dem Wunsch eines Kindes, in einem öffentlichen Sandkasten einen Tunnel zu graben, den andere Kinder erst bestaunen und dann mit benutzen könnten. Aber ich musste zu Hause bleiben, sagte ich und schenkte meiner Mutter – sie hatte sich für das Abendessen noch einmal in Schale geworfen – Wein nach. Du hast erklärt, ich solle dem lieben Gott danken, dass ich in einer warmen Wohnung spielen СКАЧАТЬ