Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Читать онлайн книгу Dämmer und Aufruhr - Bodo Kirchhoff страница 17

Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783627022631

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СКАЧАТЬ an ihrem heruntergelassenen Fenster, und als der Zug anfuhr, begann ich, seitlich unter dem Fenster mitzulaufen, erst ganz langsam, dann immer schneller, und das nicht nur vor Abschiedsschmerz. Da lief einer neben dem Zug her, die zwei Frauen seines Lebens im Blick, der im Laufen kleine Schreie ausstieß, als etwas wie aus Bauch und Schenkeln kommend, in einer Körpermitte, die ihm entrissen zu sein schien, umso mehr zusammenströmte, je schneller er lief. Fast ist es ein Rennen auf dem langen Bahnsteig dicht neben dem fahrenden Zug, gefährlich anzusehen, aber der einbeinige Vater kann nichts tun, nur laute Warnungen hinterherrufen, während der Neunjährige jetzt gar versucht, die aus dem Fenster gestreckten vier Hände zu fassen, die Spitzen der Finger, und das Zusammenströmen in ihm wie ein Schwärmen kleinster Vögel zwischen den Beinen ist, so flatternd fremd, berauschend zugespitzt, dass er nur mit den Schreien dagegenhalten kann, nicht aber den irren Lauf stoppen: Er läuft auch noch außerhalb des überdachten Bahnsteigs neben dem Zug, dort, wo der Belag schon von Gräsern gesprengt wird, bis er hinter dem letzten Wagen mit einer Tür ins Leere und den Schlusslichtern herrennt und nur noch von weitem die winkenden Hände sieht und den Duft des warmen Gleisschotters atmet und etwas aus seinem Innersten wie durch ein Öhr in die Weltleere um ihn strömt, als glühendes Pissen, während er, nahezu blind, bis an das Ende des Bahnsteigs läuft, die Kante über dem Schotter.

      Sicher ist, dass mir sekundenlang schwarz war vor Augen oder mir der davonfahrende Zug samt den Gleisen dahinter schwarz vor Sonne vorkam und dass ich plötzlich glaubte, ganz allein auf der Welt zu sein, nass zwischen den Beinen wie schon einmal, noch in Hamburg, als stiller Zeuge einer Bestrafung, nur jetzt von etwas nass, für das jedes Wort fehlte, jede Idee. Und als wäre damit eine von keinem bemerkte Verwandlung einhergegangen, von etwas in mir, das nie wieder würde wie vorher, ging ich in der Erwartung, verstoßen zu werden, zurück zu meinem Vater, der vor der Wartehalle auf einer Bank saß und rauchte.

      7

      Regen in Alassio, der erste verhangene Tag, aber nur ein Zwischentief, es soll morgen wieder schön sein, das Spätsommerhoch hält noch, und ein trüber Tag – eher leichter Regen, ein Gesprühe – eignet sich für Besorgungen, Wasser, Wein, Kekse, Papier. Ich war im Ort mit einer langen Hauptgasse parallel zum Strand, unterbrochen nur von einem hässlichen freien Platz am Meer, Parkdecks darunter und neuere Gebäude an seiner Rückseite, dem Platz für den Abendrummel im Hochsommer, überall noch die Köpfe, die Namen auf Schildern; Schlachtrösser des italienischen Schlagers waren hier wie Jimmy Fontana (Il Mondo), der Platz dann sicher übervoll, während er vorhin, am späten Nachmittag, leer war. Ich überquerte ihn zu einem der neuen Häuser, darin ein Geschäft mit fetter Schrift über den Fenstern, Galleria L’Image, ein Laden für alte Reiseplakate. Die Tür stand offen, ich trat ein und stieß, noch bevor ich mich umsehen konnte oder zurück in den Regen gehen, auf Mrs. Bennett vor einem gerahmten, traumhaft schönen Plakat von Portofino, seine kleine gewundene Bucht mit dem Hafenörtchen am Ende vom Berg aus gesehen, mit viel Farbgefühl gemalt. Nine thousand Euro, sagte die Amerikanerin; sie hatte den Bewohner ihres angestammten Zimmers von der Seite erfasst, sich sogar halb gedreht, nur waren die Augen dem Körper – in weißer Bluse und Jeans, dazu Laufschuhe – noch nicht gefolgt, sie sahen auf das große Plakat.

      Neuntausend, das erschien mir recht teuer, auch wenn es, angeblich, ein Original war, auf Leinwand, frühe dreißiger Jahre. Thirtysomething, sagte Mrs. Bennett, um daraus gleich etwas Persönliches zu machen, wie es nur Amerikanerinnen so schnell fertigbringen – das ideale Alter, erklärte sie, und wir beide seien ordentlich darüber hinaus! Sie lachte, und erst jetzt sah sie mich richtig an, aus grauen bis blauen Augen unter fast geraden Lidern, und fraglich war, ob sie meinen Humor prüfen oder ein Kompliment hören wollte – dass sie nicht ordentlich über das Idealalter hinaus sei. Es war nur ein kurzer Blick auf mich, dann ging sie ein Stück weiter, zu einem ganzen Stapel bedruckter Leinwände, auch Originale, die man nicht anfassen durfte, wie es auf einer Tafel hieß, Non toccare, grazie! Ich schätzte sie auf mein Alter, vielleicht zwei, drei Jahre darunter, hatte aber das Gefühl, dass es ihr ebenso ging: Sie sich als die etwas Ältere sah. Mit einer Handbewegung wischte sie das ganze Thema allerdings weg, sie zeigte auf das teure Plakat: Portofino, da sei sie voriges Jahr gewesen um die Zeit, sonst hätte ich ihr Zimmer nicht bekommen – Why especially this room? Wie nebenbei fragte sie das, und ich erklärte, was es mit dem Zimmer und mir auf sich hatte, dass meine Eltern dort späte Glückstage hatten, das kam an; sie stellte keine weiteren Fragen, vor allem nicht die, was ich in dem Zimmer oder auf dem Balkon den ganzen Tag über machte, statt am Strand zu liegen. Sie wollte nur noch wissen, ob mir der Preis für das alte Plakat zu hoch erscheine, und ich sagte, schon im Gehen begriffen, das hänge davon ab, wie sehr man es haben möchte, um es bei sich an die Wand zu hängen. Mir wäre es zu teuer, auch wenn der ganze Zauber Italiens darin liege, die ganze Süße des Mediterranen – all our deep romantic ideas.

      Der ganze Zauber meiner Kindheitssommerfrische, ihre Süße, ihre Wehmut, lag in einem Gasthof und seiner Umgebung unterhalb des Kitzbüheler Horns – zwei Monate nach dem Bahnsteigerlebnis von Freiburg reisen Großmutter und Enkel wie in den Jahren zuvor mit dem Zug über München in den Tiroler Juli, für ganze Wochen im Gasthof Vordergrub. Sie haben ihr übliches Zimmer mit Holzbalkon, ein Zimmer noch ohne fließendes Wasser, stattdessen Karaffe und Schüssel; die Großmutter spricht von Katzenwäsche und überhaupt dem Opfer der Reise hierher und einer so langen Anwesenheit in Vordergrub, nur um ihrer Schwester, die leider kaum Geld habe, nah zu sein. Die Tante Matzi, wie sie genannt wird, angereist aus Wien, wohnt auf einem Hof in der Nähe, dem Hof Oberstegen, bei ihr die Scotchterrier Flörri und Tschenti, die darf ich an der Leine führen. Ansonsten bin ich Kavalier meiner Hüterin, bei Tag und bei Nacht. Wir teilen das Doppelbett und vor dem Schlafen ein Bier, wir schlafen, bis uns die Sonne weckt. Tagsüber treffen wir dann Tante Matzi, kinderlos und beweglicher als ihre Schwester und früher, wie es allgemein heißt, eine Schönheit, umschwärmt von jungen Offizieren. Für das fesche Bubei, wie sie den zwischen beiden Frauen nahezu Eingeklemmten nennt, macht sie sich, zum Verdruss der Schwester, zurecht, mit blutroten Lippen im kleinen faltigen Gesicht, und sie besteht auf einem Mundkuss zur Begrüßung und zum Abschied. Die Schwestern sehen sich jeden Tag, obwohl sie sich alles andere als verstehen; sie hängen nur aneinander, und die Witwe des deutschen Wehrmachtsmajors unterstützt die andere durch Einladungen zu Schnitzel und Schwarzbier, obwohl die abverlangten, unter ihren Augen erfolgenden Küsse sie eifersüchtig machen. Dafür gehört ihr der Bubei-Galan mit Lippenstiftspuren – fast grob mit einem stets unter dem Ärmel verstauten Schnäuztücherl weggewischt – voll und ganz in den Mittagsstunden und wird dort wieder zum trägen Infanten.

      Träge das Spähen im gedämpften Licht, schläfrig und doch wach, mit einem Auge auf der, die in der Wäsche auf ihrer Bettseite liegt, das Mieder geöffnet – ich sollte einige der kleinen Haken lösen, damit sich ihr Leib entspannen konnte, und nun entspannte er sich also, wo er vorher zusammengedrängt war, während ich zu schlafen vorgab, aber alles im Blick behielt. Erschöpft und mächtig zugleich lag meine Hüterin neben mir, leise strömte der Atem aus ihrem Mund und der großen Nase, wie über unsichtbare Treppchen hopste die Luft, hinein in einen Summgesang, der langsam in Schlaf überging; und der vom Mittagsbier Benommene konnte nicht anders, als das ja ohnehin etwas offene Mieder in der Farbe einer blassen Aprikose noch weiter zu öffnen, bis er sah, was er nicht sehen sollte, ihr helles Fleisch. Mir blieb gut eine Stunde, bevor sie erwachte, bettwirr das Haar, und es hieß, dass ich die Ösen wieder schließen sollte, nur nicht die unterste, die über dem Po. Also begann ich mit dem Zuhaken, vorsichtig, und sie erinnerte noch einmal an die kleine Poregel – ein geringes In-die-Schranken-Weisen, oft verrät es auch ein Verlangen. Die unterste, die schließt mir der Herrgott, sagte sie, einer ihrer Rätselsätze, und im selben Atemzug bat sie darum, ihr den oberen Rücken zu kratzen, sie zu scheren, wie sie es nannte, und das geschah mit Ausflügen meiner Finger unter das Mieder, leise seufzend von ihr genossen. Wir waren jetzt eins, ein Wonneklumpen im Bett, und umso ungehaltener war sie, als auf einmal, verfrüht, ihre Schwester für den Nachmittagsspaziergang im Zimmer erschien und sich auch gleich den Mundkuss abholte. Sie fuhr sie mit nörgelnder Schärfe an, nannte sie rücksichtslos, die ewig Lästige – mir im Gedächtnis wie die Falten um den Tante-Matzi-Mund und ihr feiner Oberlippenbart.

      Schließlich СКАЧАТЬ