Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Читать онлайн книгу Dämmer und Aufruhr - Bodo Kirchhoff страница 13

Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783627022631

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СКАЧАТЬ und sie rief mit einer jähen, fast gespenstischen Energie in der Stimme, ob ich mir überhaupt vorstellen könnte, wie jung sie und mein Vater damals auf dieser Weltreise in den Schwarzwald mit Übernachtung hinter Kassel gewesen seien? Und der Sohn konnte sich zwar nicht vorstellen, wie jung sie waren oder sich fühlten im Mai fünfundfünfzig, aber dass sie beide jung waren auf der Reise in eine neue Heimat, die nie ihre Heimat wurde, nur seine der Kindheit, ausgefüllt von ihrer so anderen Sprache, ihrer bewaldeten Landschaft und all den neuen Gerüchen, nach Heu, nach Traktorfett, nach Gülle und Tinte aus dem Tintenfass, das wusste er.

      Ja, ihr wart jung, sagte ich. Aber wann sind wir angekommen? Und meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf, wie immer, wenn sie sich etwas ins Gedächtnis rief, an das sie eigentlich nicht erinnert sein wollte. Wann sind wir angekommen? Irgendwann gegen Abend waren wir in Freiburg und sahen das Münster und den Schlossberg mit Weinstöcken und haben uns umarmt, dein Vater und ich. Nur war Freiburg gar nicht das Ziel, sondern ein Vorort, dort gab es am Fuß einer alten Bergwerkshalde ein Gebäude, in das die Firma einziehen sollte, und wohnen sollten wir in Kirchzarten, einem Dorf in der Nähe. Es gab eine Straße, die führte an der Halde vorbei, einem Hang, der aussah, als hätten Bomben eingeschlagen, von dort ging es zwischen Wiesen und Waldhängen Richtung Kirchzarten, bis die Straße nur noch ein Feldweg war, und an einer Stelle am Wald sah ich einen Gasthof, den Gasthof zur Tanne, dort haben wir die erste Nacht im Schwarzwald verbracht – du wirst dich nicht erinnern, sagte sie, und ihr fielen schon die Augen zu. Aber die Bilder vom Ende unserer Weltreise waren nach allem, was sie gesagt hatte, ganz deutlich: Es gab Würstchen und Limonade, die Bluna hieß, und mein Vater, den ich bewunderte für sein Autofahren mit Zwischengas beim Schalten und das mit einem Fuß, noch dazu dem falschen linken, trank aus einem kelchförmigen Glas seinen ersten Wein aus der Gegend, in der er von nun an leben würde. Wir bezogen in dem Gasthof zwei Zimmer, eines die Eltern, das andere die Geschwister und das Kindermädchen; sie weinte schon wieder vor Heimweh, und mein Vater rief, sie solle sich zusammenreißen. Es war ein milder Maiabend, wir aßen im Freien, meine Mutter streckte sofort ihre Fühler aus nach einer Bleibe, bis wir in dem nahen Dorf etwas Passendes gefunden hätten, und die Wirtsleute erzählten von einem Hof, nur wenige Minuten entfernt, dem Hug’schen Hof, wo wir für den Sommer unterkommen könnten. Mehr sagten sie nicht, aber die Schauspielerin ohne Bühne malte schon die Idylle auf dem Hof aus, und ich sehe noch meine Eltern ihre Weingläser aneinanderstoßen, auf das Paradies, und sehe die Tränen der Annegret hinter ihrer starken Brille und weiß noch, wie ich das erste Wort in der so fremden Sprache aufschnappte, aus dem Mund des Wirts: Sel Glas, sagte er, statt dieses Glas, ob er sel Glas nachfüllen dürfe, und mein Vater rief Jawoll!, mit doppeltem L, und kam dann mit einer Erklärung, später bei jeder Gelegenheit wiederholt: Dass sel in der Sprache hier, im Alemannischen, für der, die, das stehe, für alle Artikel, und die Abkürzung von selbiges sei. Wie maulfaul praktisch, sagte er vielleicht noch, und seine schöne junge Frau schmiegte sich an ihn und summte den Refrain eines Liedes, das sie im Auto sogar gesungen hatte, als es auf Freiburg zuging: Schwarzwaldmädel hübsch und fein, du sollst meine Liebste sein. Wir Kinder sangen es mit, jedenfalls der bald Siebenjährige, überfällig für den Besuch einer Schule, dafür aber von hoher Aufmerksamkeit für alles, was die Erwachsenen sagten, besonders der Vater, und dazu noch, bisher von anderen Kindern weitgehend ferngehalten, ein Beobachter seiner selbst – ich erinnere mich auch an ein Streifen durch den Garten des Gasthofs zur Tanne, während die Eltern rauchten und das Kindermädchen meine kleine Schwester zu Bett brachte. Es gab dort in den Beeten bunte Kugeln auf Stecken, um die Vögel abzuhalten, eine Szenerie wie vor dem Landgasthof bei Kitzbühel, und gleich beim Anblick dieser grünen, blauen und roten Kugeln überfiel mich eine Sehnsucht nach meiner großmütterlichen Hüterin, die uns erst später – im Herbst, hieß es, aber was ist für ein Stadtkind der Herbst – vom fernen Hamburg in den Schwarzwald nachfolgen sollte, was aber hieß, dass ich einen ganzen Sommer schutzlos wäre.

      Ja, so war das, sagte meine Mutter mit jetzt erschöpfter Stimme, als hätte sie das alles haarklein erzählt – alles, was mir, Jahre nach ihrem Tod, durch den Kopf gegangen ist und immer noch durch den Kopf geht –, und wie als Beleg für unsere einstige Weltreise und den ersten Abend in der Fremde summte sie sogar noch die alte Melodie vom Schwarzwaldmädel, vermischt mit einem Ringen nach Luft, und der Besuchersohn schenkte sich Wein nach und leerte das Glas in einem Zug. Sie sah es nicht mit ihren zugefallenen Augen, trotzdem war sie noch wach, voller Willen, und erteilte einen präzisen Auftrag, ihr noch ein Wasser für die Nacht zu bringen, das Wasser aber aus einer Flasche, die nicht auf dem Balkon stand, nur ein wenig kühl ist, weniger als lauwarm, und nicht zu voll das Glas – etwas mehr als die Hälfte, hörst du? Und der Sohn hörte heraus, was sie neben dem Wasser eigentlich wollte, ihren Willen durchsetzen, also ging er zur Küchennische und füllte ihr Glas mit Wasser von Vittel, das nach nichts schmeckt und weder lauwarm ist noch kalt, nur flüssig – ich füllte es bis zu einer Markierung, die nur der sah, der meine Mutter kannte, lebenslang, ging wieder zum Bett und stellte das Glas auf den Nachttisch, die dafür vorgesehene Ecke, nah am Rand, aber auch nicht zu nah. Es folgte das Herunterbeugen und zuerst ein Kuss auf die Stirn, während ihr Mund schon leicht vorschnappte für den eigentlichen Gutenachtkuss, wenigstens andeutungsweise auf die Lippen, bevor, auf ihr Geheiß, das Licht am Bett zu löschen war. Nur eine Lampe brannte jetzt noch in dem Appartement, eine Stehlampe mit grünem Schirm in der Sitzecke, sie sollte die ganze Nacht anbleiben, gegen die Dämonen, auch wenn sie das nicht aussprach, nur sah man es ihr an. Da war ein Bangen in ihren Augen, wie bei Kindern, die erstmals für einen Abend allein gelassen werden, und ich sah sie ganz in diesem Bangen, dieser stillen Furcht, sah sie plötzlich als die, aus der ich, wenn es sie nicht mehr gäbe, sie mich allein gelassen hätte, in der Erinnerung erzählend etwas machen würde, das im Moment noch verschwommen war, eine Geschichte ohne Titel. Dann bis morgen, sagte ich, und sie sagte – nicht das erste Mal an dem Abend –, ihren Herrn Abban bitte zu grüßen, wenn der im Foyer sitze, und ich versprach es und entfernte mich rückwärts und sah noch, wie sie an ihren Handtuchturban griff, bereit, seinen Knoten zu lösen, das dünne weiße Haar zu befreien, das der Sohn nicht sehen sollte, noch nicht. Ich ging zur Tür und wünschte ihr jetzt erst gute Nacht, rief es ins Zimmer, Gute Nacht, und sie antwortete mit fast fester Stimme aus dem abgetrennten Schlafbereich, Gute Nacht, mein Sohn! Ein Wort wie eine Hand, die noch einmal nach mir griff, aber da trat ich schon in den Flur und schloss die Tür hinter mir – blieb noch die Arbeit des Einschlafens in der Stille der Wohnanlage, auch im Gästeflügel, aber schon in dem Flur so umfassend, dass man versucht war, aufzustampfen und laut gegen die Wände zu reden. Ich lief an der Fahrstuhltür mit dem Tageswort von Goethe vorbei, lief die Treppe hinunter und durch einen Gang in das Foyer, und dort saß tatsächlich einzig und allein Herr Abban im dunklen Anzug mit Schlips in einem Sessel, ein schmaler, in sich gekehrter Herr, von meiner Mutter, als sie noch das Restaurant der Wohnanlage betreten hatte, als Tischnachbar auserkoren. Er schien zu schlafen, ich ging auf Zehenspitzen weiter, aber da murmelte er ein Guten Abend, die Augen weder auf noch zu, und ich erwiderte den Gruß, verbunden mit seinem Namen, Guten Abend, Herr Abban. Mehr konnte ich nicht sagen, auch wenn es gut gewesen wäre, ihm noch Grüße meiner Mutter zu bestellen, gut für seinen Frieden in dem Sessel, und so wurde es geradezu ein Davonlaufen in den Flügel mit den Gästezimmern, im Grunde die Flucht vor dem Alter.

      Ich bewohnte das Zimmer, das auch meine Schwester während ihrer ja tagelangen Besuche, immer bis zum Gehtnichtmehr an der Seite der Besuchten, für ein paar Stunden Schlaf nutzte. Dort lag im Kühlschrank Wein bereit, die eiserne Reserve des Sohns, und ich trank im Stehen aus der Flasche, wie es mein Vater getan hatte, wenn es ihm an Sommertagen, aus reiner Lebensfreude, so gefiel, bis sich eine Chemo zwischen ihn und den Wein oder überhaupt das Leben stellte. An unserem ersten Abend im Schwarzwald aber hatte er sich darin gefallen, aus dem neuartigen kelchförmigen Glas mit seinem dicken geriffelten Stiel zu trinken und es immer wieder an das Glas seiner jungen Frau zu stoßen, vielleicht als Auftakt zu einer Umarmung im gemeinsamen Gasthofbett, der ersten Umarmung in seinem Arkadien, auf das er gesetzt hat, einer Gegend der Süße und des Lichts nach dem grauen Hamburg, während die Kinder bei der heimwehkranken Annegret aus Moorfleet lagen und dem Sohn vor dem Einschlafen noch etwas durch den Kopf ging – ich glaube, mich daran zu erinnern, aber das kann auch an dem Berauschenden liegen, seit die Arbeit des Schreibens am letzten Glücksort der Eltern geschieht, in ihrem Zimmer mit Meerblick für wenige СКАЧАТЬ