Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783627022631

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СКАЧАТЬ mitten am Nachmittag, ihm das behaarte Geheimste zeigte und die Möglichkeit gab, sich an sie zu pressen, ohne den Zeugen im Heu zu bemerken. Von da an war es eine Zeit des verstörten Alleinseins, mit immer ausgedehnteren Streifzügen in die Umgebung – ich sprach mit mir selbst, wie die Leute auf dem Hof sprachen, die neue Sprache wurde mein Begleiter. Es war eine Zeit der Entdeckungen, von meiner Mutter im Ehejahresbericht nur mit wenigen Sätzen aus ihrer Scheuklappensicht erwähnt: Wir lebten auf einem wunderschönen Bauernhof, unser kleiner Sohn lernte dort Lesen und Schreiben. Wir aber gingen ans Werk und versuchten, aus dem Hoffnungsfaden, der uns nach Freiburg gezogen hatte, ein Tau zu machen. Privat kam uns dabei ein Wunder zu Hilfe, wir fanden in Kirchzarten ein Haus mit Garten, das wir nach dem Sommer beziehen konnten, die Besitzerin, eine liebe alte Dame, hat ihr Zimmer unter dem Dach. Wieder einmal war es ein Aufatmen, und das Wunder für die Firma, dachten wir, würde bald auch noch kommen. Man muss an solche Wunder nur fest glauben!

      Das Haus lag in der Höfener Straße vierundzwanzig, und die liebe alte Dame war schon etwas umnachtet, für meine Schwester und mich war sie nichts als unheimlich, zumal sie nie in Erscheinung trat, ein Art Gespenst oben im Haus, ein Haus, mit dem wir Kinder Glück hatten durch den alten Garten (groß genug, dass dort längst ein weiteres Haus steht), ein Garten mit Obstbäumen, einer Tanne und Kieswegen, ja sogar einem kleinen verwilderten Labyrinth, angelegt aus mehreren Hecken, und dann gab es noch eine hohe Birke, deren Äste über einen Schuppen ragten, meinem Spielreich. Inzwischen hatte die Volksschule wieder begonnen, und durch eine neue Aufteilung von Jungen und Mädchen kam ich in eine Klasse mit der Tochter des Arztes, der mir die Wunden aus dem Frühsommer behandelt hatte – Doris Eckart, weichwangig, katzenäugig, dazu mit schönem Mund und Pferdeschwanz, erfüllte alle Voraussetzungen für die ersten schwärmerischen Gefühle. Und als dann auch noch im großen Haus ihres Vaters ein Zimmer für meine aus Hamburg nachgezogene Hüterin frei wurde, dort ein neues Exil entstand, ich wieder pendeln konnte zwischen dem Machtbereich der Eltern und einem Schlaraffenlandzimmer mit dem summenden, halb singenden Atmen der einstigen Sängerin, mit ihren so verlässlichen kleinen Geschenken und all den Extramahlzeiten, war dort einer Kinderliebe Tür und Tor geöffnet. Immer wieder saß ich auf den Stufen zum Arzthaus neben Doris, ergriffen von ihrer Schönheit, und im elterlichen Garten spielte ich mit dem Schulbanknachbarn Bertram, endlich um die Ecke wohnend, ergriffen von der Idee der Freundschaft: das erste Stück einer nicht weiter auffallenden, einer gewöhnlichen Kindheit – von der Chronistin dieser Zeit mit keinem Wort erwähnt. Im jährlichen Ehebericht meiner Mutter, dem für das Jahr neunzehnhundertfünfundfünfzig, geht es fast nur um die Finanznöte der kleinen Firma, von welcher Seite mit welchen Mitteln etwas Geld besorgt werden könnte, mal fünftausend Mark, mal zehn- oder achttausend, jeweils Beträge, die alles hätten zum Besseren wenden können – Dieses ständige Zittern, ob es uns morgen noch gibt, heißt es da an einer Stelle, dieser tägliche Kampf um etwas Balance, den nächsten gesicherten Tag! Und war es wieder einmal in letzter Sekunde geglückt, ein Finanzloch zu stopfen, dankte die Verfasserin in großen Lettern dem lieben Gott: der fest an ihrer Seite stehe, immer. Sie und ihr bewunderter Mann und Gott als Retter in höchster Not waren die Hauptakteure in dem Bericht, die Kinder blieben im Hintergrund, als Glückslieferanten. Zweifellos gab es eine Liebe für sie, überschäumend, ein Auge für ihr Tun gab es nicht, weder für den Sohn, der schon in einer eigenen Welt lebte, mehr mit sich sprach als mit anderen, noch für sein Schwesterchen, das weiter die Schaukelbewegungen machte, sich nur langsam von dem Familienhinundher ihrer ersten Jahre erholte – auch das ein täglicher Kampf um Balance. Der große Bruder fand seinen Ausgleich dagegen auf dem niederen Dachboden des Gartenschuppens, in einem dämmrigen Reich, das er zu gestalten anfing, indem er seine frühen übermächtigen inneren Bilder nach außen kehrte: Ich baute mir dort eine Geisterbahn.

      Die kleine Schwester, nunmehr vier und im Kindergarten, behielt ihr Los, eben kleine Schwester zu sein, hintanzustehen, für sich, während der Bruder die Gespenster tanzen ließ, vor Augen noch das Bild der Mutter, nackt auf dem Holzbalkon, rote Blüten auf den Lidern, vor Augen auch das blonde Mädchen aus Moorfleet mit heruntergezogener Hose, wie es sich zappelnd der Bestrafung beugt, die Bilder der Magd, die den Rock hebt und den Mann gewähren lässt, seine Stöße empfängt, oder die Köpfung eines Huhns vor dem Hofabort. Und so entstanden Nachempfindungen in Form von Installationen unter dem Schuppendach, schauderhaft wie das Gerippe in der echten Geisterbahn, wenn es jäh erscheint, ein Bilderparcours, um damit den eigenen Schauder zu vertreiben. Da gab es Puppenbeine an Drähten und einen Stoffbären ohne Augen; es gab eine entkleidete Puppe, aufgespießt auf einer Gabel, aber auch einen nassen Lumpen, der von einer der Latten herunterhing. Und als Höhepunkt gab es ein Hinterteil wie das des bestraften Mädchens, geformt aus Knetgummi, allen vier Stangen einer Packung, der roten, der grünen, der blauen und der weißlichen (noch ein Kindheitsgeruch: Knete an den Fingern), einen Po mit brennender Kerze darin. Ihr Licht war das einzige auf dem Dachboden, durch den man nur kriechen konnte, und es grenzte an ein Wunder, dass der ganze Schuppen bei diesem so ernsten Spiel – mit der unerschrockenen kleinen Schwester als erster Besucherin der Geisterbahn – dabei nicht abgebrannt ist.

      Alles, was mit Feuer zu tun hatte, jede Flamme unter meiner Kontrolle, schlug mich in ihren Bann – einen Jungen, der nun schon fast wie die anderen in der Klasse sprach, aber nicht wie die anderen war, etwa das Foto von sich und dem größten Boxer bei sich trug. Ich stand mit Freund Bertram und dessen Brüdern im Herbst vor einem der Kartoffelfeuer auf den nahen Feldern, fachte es mit an, dass die Funken sprühten, und das Beweisfoto steckte in meinem Anorak; ich spielte mit Doris, der Arzttochter, zündelte auf den Stufen zu ihrem Elternhaus und suchte nach einer Gelegenheit, meine Berührung mit der Filmwelt zu erwähnen. Bisher hatte ich das Foto nur Freund Bertram gezeigt, ihm als Geheimnis anvertraut; ich hielt es zurück wie einen Trumpf, den auszuspielen jederzeit rettend sein könnte, besonders auf dem jetzt zwar kurzen, aber dafür gefahrvollen Schulweg, gefahrvoll, weil dort auch ältere Jungs liefen, solche, die in der Schule wegen Frechheit Stockhiebe bekamen, bis sie brüllten, und die ihre Prügel nach der Schule gern weitergaben. Dieser Weg über eine noch ungeteerte Dorfstraße führte vorbei an einem Haus mit gelegentlich eigener Schlachtung, mal schrie dort ein herbeigezerrtes Schwein, mal stürzte das Gedärm aus einem aufgeschlitzten Leib; außerdem war da noch eine Blechnerei, vor der immer Lehrlinge standen und rauchten. Und eines Tages packten sie den Bruno, der ich war, den Imitator des Alemannischen, und stießen ihn vor sich her in den Werkraum, dort sollte er in ein gerade gefertigtes Rohr Sätze nachsprechen, und er glaubte, sich aus der Affäre ziehen zu können, indem er seinen Trumpf auswarf und Ich! sagte, mit der ganzen Impertinenz dieses persönlichsten Fürworts – Ich und Max Schmeling. Die Lehrlinge aber beugten sich über das Foto und befanden es für unecht, für Aufschneiderei, erst das Autogramm auf der Rückseite tat seine Wirkung: Der Kräftigste versetzte dem Filmkind einen Hieb, dass es umfiel. Er wollte es prüfen, prüfen, ob der Boxer ihm etwas beigebracht habe, aber es gab keine Gegenwehr, nur ein leicht entrüstetes Heiland, wie ich es bei anderen, wenn sie etwa im Schwitzkasten waren, gehört hatte. Und da drückte der Schlägerlehrling den Aufschneider mit dem Mund an die Rohröffnung und sprach ihm Wörter vor, die er laut rufen sollte, Brutsäckel, Arschlecker, Futt, und er rief sie ins Rohr, nur genügte das noch nicht. Er sollte auch eine Gotteslästerung rufen, etwas vom Vaterunser, fast die Worte, für die ihn seine Mutter mit dem Holzbügel geschlagen hatte, Vaterunser, der du bist im Arsch, sags, Kerle! Er drohte, das Foto zu zerreißen, also rief ich die Worte ins Rohr, einmal, zweimal, dreimal, dann durfte ich gehen, samt Max Schmeling: der mir nicht hatte beistehen können und von da an zu Hause blieb, verwahrt in meiner Geisterbahn auf dem Dachboden des Schuppens.

      Und noch unter dem Eindruck dieser erteilten Lehre in der Blechnerei auf dem Hinweg zur Schule bin ich an dem Tag gar nicht in die Schule gegangen, sondern weiter auf der Straße, die Schulstraße hieß und am Ende in einen schmalen Weg zum Haus von Dr. Eckart führte. Ich floh zu meiner Hüterin, so zuverlässig in ihrem Zimmer, wie meine Eltern abwesend waren (beide ganztägig in dem gemieteten Firmengebäude unterhalb der stillgelegten Bergwerkshalde). Sie lag noch im Bett mit einem Kreuzworträtsel, als ich auftauchte, und ich erzählte ihr nichts von dem Vorfall, ich sagte nur, mir sei nicht gut, ich wollte nicht in die Schule, und sie setzte gleich Wasser auf für eine Wärmflasche. Und als wir dann beide im Bett lagen, sahen wir uns Fotos aus der letzten Sommerfrische an – in den großen Ferien war ich jetzt wieder СКАЧАТЬ