Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Читать онлайн книгу Dämmer und Aufruhr - Bodo Kirchhoff страница 14

Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783627022631

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      Der Name des neuen Lebensorts südöstlich von Freiburg im Dreisamtal erschien mir als Willkommensgruß oder Verbeugung vor meinem Familiennamen, eine Auffassung, die dem bald Siebenjährigen half – endlich war ich in die Schule gekommen, zu anderen, echten Kindern, etliche noch barfuß unterwegs –, damit fertigzuwerden, dass sein weltenferner norddeutscher Vorname bei den Dörflern zu einem landläufigen Bruno wurde. Und wem das so fremde Kind mit Baskenmützchen auf einer der noch ungeteerten Dorfstraßen über den Weg lief, der sah es an und fragte: Wem g’hörsch au’ du?

      Der Umzug in den Schwarzwald im Frühsommer fünfundfünfzig, die kleine Schwester noch keine drei, hat alles bisherige Kindsein buchstäblich gesprengt. Wir wohnten in den ersten Monaten, während des ganzen Sommers bis in den Herbst hinein, auf jenem Hug’schen Hof weit außerhalb von Kirchzarten, einem Bauernhof mit Getier aller Art in Verbundenheit mit den Menschen. Da gab es Schweine im Pfuhl und ein sich drängendes Vieh in warmer Stallung, gewaltige Gäule, dampfend um ihre Nüstern, und Puter mit rot schwellendem Kropf; es gab einen Höllenhund und zahme Kaninchen, rundliche Ferkel und eine gewaltige, kaum auf die kurzen Beine kommende Sau; es gab Hühner und Gänse, Katzen und Mäuse und Kälber mit Augen, die das Stadtkind vertrauensvoll ansahen. Und inmitten all dieser Lebendigkeit, wie dessen Achse, fuhrwerkte ein Altknecht, der Blasius, genannt Bläsi, für die Geschwister eine Art Zentaur durch seine Figur und eine tierlautartige Sprache. Er saß entweder auf dem Traktor oder war im Stall zu finden, wo sich auch der frisch Eingeschulte oft aufhielt und gebannt zusah, wie sich das Vieh gleichmütig entleerte. Die Volksschule lag mitten im Dorf, der Weg dorthin mit einem Ranzen auf dem Rücken, jeden Morgen, kam mir unendlich weit vor, nur gab es bis zu den Sommerferien einiges nachzuholen, weil die anderen schon seit Ostern eingeschult waren, Buben und Mädchen, und die Gescheiteren bereits alle Buchstaben auf ihre Schiefertafeln schreiben konnten. Der Neue hinkte hinterher, dafür gewann er einen ersten Freund, seinen Banknachbarn mit rotem Haar und Sommersprossen, Bertram Auerbach aus einer richtigen, großen Familie, fünf Kinder, die Eltern und eine Oma, alle unter einem Dach; noch war es keine Alltagsfreundschaft, der eine wohnte im Dorf, der andere außerhalb. Aber wenn der Junge aus dem fernen Hamburg abends mit Vater und Mutter, kleiner Schwester und Kindermädchen, den Knechten des Hofs und den alten Hugs, denen alles gehörte, um den bäuerlichen Tisch saß, versuchte er, immer ein Wort von der so fremden Sprache aufzugreifen, um es am nächsten Tag in der Schule anzuwenden und den Banknachbarn vielleicht noch mehr zu gewinnen.

      Unvergessen, wie ich erstmals den Sinn eines Ausdrucks erfasste, der jeden Abend beim Essen fiel, wenn der alte Bauer den jungen Knechten oder auch seinen Logiergästen etwas erklärte, vom Wetter, vom Vieh, vom launischen Herrgott, und die kleine Rede stets mit diesem dunklen Ausdruck oder Wort, vuhdämmhär, beschloss, was ja nur heißen konnte: von da her oder deshalb – für einen, der die Welt durch die Sprache entdeckt hat und dem die Sprache darum als Welt erschien, ein Kinderspiel. Alles andere als ein Spiel, die Nagelprobe war es dagegen, den neuen Ausdruck am nächsten Tag in der Schule tatsächlich zu gebrauchen, möglichst mit der gleichen, leicht dunklen und versteckt besserwisserischen Stimmlage am Ende einer Erklärung, etwa der für meinen seltsamen Namen: Weil man mich nach einem Onkel in Amerika benannt habe, als Dank für seine Care-Pakete nach dem Krieg, vuhdämmhär. Und dieser so welterschließende Sprechakt wurde am abendlichen Esstisch dann wiederholt, zum Schrecken und Entzücken meiner Mutter, während die Knechte immerhin aufsahen von den Holztellern mit Speck, den sie von der Klinge ihrer Sackmesser aßen – noch ein Wort, nach dem ich schnappte. Mein Vater trank zu dem Speck den Wein der Gegend, und die Schauspielerin ohne Bühne machte mit den Knechten Konversation, in einem Operettenwienerisch, das in völligem Gegensatz stand zu der Sprache, die der frisch Eingeschulte sich anzueignen bemüht war, eine Sprache, die das sehr hamburgische Kindermädchen – damals Mitte zwanzig – noch mehr in Heimweh stürzte, auch wenn sie sich zusammennahm beim Essen, nur unter der Brille die roten Augen rieb, zitternd in den Brüsten, wenn sie ein Schluchzen unterdrückte für meinen Vater (der bei Gelegenheit ihr heimlicher Tröster werden sollte).

      Der große Hof mit seinen Stallungen hatte viele Neben- und Zwischenräume, Gelasse im Boden und Kammern unter dem Dach, ich könnte nicht sagen, wo und wie wir dort gewohnt haben; umso genauer dafür die Erinnerung an Geräusche und Gerüche und immer neue Wörter, die mir zuflogen. Neben all den Tierlauten und den Wolken von Gülle und Heuduft oder dem von Most aus Krügen gab es aus jedem Mund das Alemannische wie eine Musik, die ich aufnahm. Und oft mischten sich Wörter mit bis dahin unbekannten Gerüchen wie dem von altem Zeitungspapier, in handlichen Fetzen auf einen Nagel gespießt, und feuchtem Holz in Gestalt eines Verschlags, darin ein Sitz mit Loch in der Mitte: der Abort, wie die Toilette auf dem Hof und auch in der Schule hieß, gesprochen mit doppeltem B und leichter Verschleppung des A. Unvergessen mein erster Blick in die Grube unter dem Loch im Holzsitz, auf ein bräunliches Schimmern in der Tiefe, und wie der alte Hofbauer, Pius Hug, dem Hamburger Jungen, dem es grauste vor dem Verschlag voller Spinnweben und Gestank, Verständnis entgegenbrachte, mit wunderbaren neuen Worten: Wenn de nur saiche musch’, Bub, brusch’ it auf de Abbort, gohsch’ dehinder.

      Es war der Nachklang dieser Sprache, der den Buben zu tragen begann auf dem täglichen Weg zur Schule, der ihn aber auch in Erregung stürzte wie in ein Lampenfieber, weil es galt, in der Schule, genau diesen Klang zu treffen, ohne als Betrüger dazustehen; ich ging den langen Weg vor mich hin murmelnd, ein Repetitorium im Gehen, immer in dem Bewusstsein eines möglichen Skandals. Der Hof lag, wie gesagt, weit außerhalb des Dorfes, etwas erhöht an einem Hang, der Weg führte zunächst ein Stück bergab und dann durch Wiesen und schon wogende Felder vorbei an zwei Kruzifixen, das erste aus rostigem Eisen, wenig vertrauenerweckend, das zweite aus altem bemoostem Stein hinter einem Brückchen über den Rotbach, und vor diesem schöneren Kreuz blieb ich immer stehen für ein Gebet: dass mein Vater mich abholen möge von der Schule. Und manchmal wurde das Gebet erhört, ich kam mittags aus dem Gebäude, und da stand schon der graue VW, aus dem Fahrerfenster hing ein gebräunter Arm mit Zigarette in der Hand, welch eine Rettung. Meistens aber blieb nur der Rückweg zu Fuß, der Bub mit Ranzen trödelte durch die Wiesen und Felder, die Mittagssonne warm im Rücken, nicht ahnend, was sich dabei schon in ihm sammelte, ein bleibendes Empfinden von Heimat – das ist mein Tal, mein Boden.

      Erst eine höhere Gewalt beendete diesen prägenden Schulweg: Ich kam unter eins der Pferde auf dem Hof, durchgegangen, weil es der launische Herrgott so gewollt habe. Es galoppierte über mich hinweg – bühnenreife Schreie meiner Mutter, während mein Vater wie auf zwei Beinen heraneilte. Er trug mich zum Auto, ein aus Wunden an allen Körperteilen blutendes Kind, er stoppte die Schreie der Mutter und lud sie mit ein, tat, kriegserprobt, das Nötige und fuhr rasend dorthin, wo mit Hilfe zu rechnen war, zum Dorf, und bei dem ersten, dem rostigen Kreuz kam es zum Zusammenprall mit einem entgegenbrausenden Motorrad. Der abgeworfene Fahrer wurde gleich mitgenommen, zwei Blutende saßen jetzt im Wagen, und natürlich wusste der Einheimische, wo der Dorfarzt wohnt, und meine Mutter dankte laut dem lieben Gott für das Glück dieses zweiten Unfalls, der mich ohne Umweg in rettende Hände brachte. Es waren die Hände von Dr. Eckart mit großem Haus, von da an unser Kontakt in Kirchzarten, bezahlt mit meinen Wunden, die aber so eindrucksvolle Verbände nötig machten, dass ich von den restlichen Schultagen vor den Sommerferien befreit wurde. Und auf einem Bett im Schatten eines Apfelbaums – dem ersten Bett, das je auf dem Hug’schen Hof ins Freie gestellt wurde, durchgesetzt von meiner Mutter – lernte der allseits bedauerte Patient unter bestmöglichen Umständen die ihm noch fehlenden Buchstaben des Alphabets mit der für ihn falschen Hand zu schreiben. Nur das Alphabet an sich, die richtige Reihenfolge der Buchstaben, hat der vom Unterricht Befreite zu lernen versäumt, jedenfalls ab dem N, ein Mangel, der sich nicht beheben ließ, der sich immer wieder zeigt, und wenn es hier nur im deutsch-italienischen Wörterbuch ein Wort etwa mit R am Anfang zu suchen gilt – R wie Reibeisen, grattugia, um dem afrikanischen Zimmermädchen zu erklären, warum ich für den Balkonstuhl ein Sitzkissen möchte.

      Es war ein Frühsommer der Rekonvaleszenz in der bäuerlichen Umgebung, einer Aneignung der neuen Welt von meinem Lager aus. Aber kaum waren die Wunden etwas verheilt, begann ich mit Streifzügen rund um den Hof und erlebte die erste Ernte, das erste Gewitter, den ersten Gewaltausbruch, eine Prügelei СКАЧАТЬ