Noa stellt sich eng an Elija heran, öffnet den Reißverschluss des Rucksacks und kramt das Fernglas heraus. Sie hängt es um Elijas Hals.
Wenn es dir zu schwer wird, gibst du Bescheid, in Ordnung?, sagt sie. Elija nickt.
Acht. Einundvierzig
Obwohl sie noch nicht lange laufen, schnauft Elija laut, findet Noa. Sie überlegt, Elijas Rucksack zu nehmen und sich selbst aufzusetzen, doch dann würde Loth schimpfen oder die Augen verdrehen. Noa geht weiter.
Noa mag es, zu laufen, ohne den Hamburggeruch in der Nase zu haben.
Das salzige Wasser in der Luft. Den Gestank der Fischkadaver, an denen sie vorbeikommt. Auf dem Weg zur Arbeit. Oder wie soll sie die Kantine nennen, in der sie breiig gekochten Reis neben braungrüne Erbsen schaufelt und Guten Appetit sagt, wenn sie den Teller übergibt. Beim Laufen hört sie auf ihre Schritte. Für die Vormittagsarbeit zieht sie Absätze an, egal, ob das unpraktisch ist oder ob es die Füße müde macht. Sie mag es, morgens an den breiten Straßen entlangzulaufen, an den grauen Häusern vorbei bis zu dem Glaskasten mit Elbblick. Kein Wunder, dieser Elbblick. Das Haus ist so hoch. Man kann alles von dort sehen. Nicht nur die Elbe, sondern die ganze Stadt, glaubt Noa. Bisher war sie nie ganz oben. Noa ist hellwach auf dem Weg zur Arbeit. Es ist Sommer, da fällt das Aufstehen nicht schwer. Vor allem nicht, wenn sie Akims Sprachnachricht im Ohr hat. Seine heisere Stimme und seine Ähms. Mehr Ähms als Wörter, aber das ist schon okay für Noa. Was soll man auch sagen so früh am Morgen. Gerade wenn man, wie Akim, die halbe Nacht arbeitet oder feiert oder was auch immer macht. Noa hat nicht gefragt, keine Antwort aufgezeichnet. Im Kopf spielt sie die Nachricht immer wieder ab. Die Ähms und die Du-Noas und die Ich-habe-so-miserabel-Geschlafens. Wie er das sagt: Noa. So als wäre das ein starkes Wort, ein Wort aus Metall, an dem man sich die Zunge blutig schneidet. Eben nicht so ein Wort, das nur ein leichter Hauch ist, bei dem man sich nicht sicher ist, ob es nicht vielleicht nur ein Ausatmen war.
Akims Stimme kommt aus dem Bauch und hangelt sich dann seinen langen dünnen Hals hoch. Das macht auch seine Worte manchmal dünn, wenn sie herauskommen. Erschöpft. Nur wenn er seinen Namen ausspricht, wenn er: Hallo, hier ist Akim sagt, ist das wie ein Schlag auf den Bordstein.
Die breite Straße riecht nach Gummi. Abgefahrene Reifen. Eines Fahrrads oder eines Autos, sie weiß es nicht. Bilder eines verunglückten Radfahrers, Opfer eines illegalen Autorennens kommen in Noas Kopf. Sie sieht die Verletzten vor sich. Blut und zerborstene Knochen. Vielleicht ein gebrochenes Genick. Noa will schon hinrennen, Erste Hilfe leisten. Aber da liegt ja keiner. Da braucht ja niemand ihre Hilfe. Da ist nur der Gummigeruch.
Das Klackern ihrer Schuhe hallt von den Hauswänden wider. Am Straßenrand stehen Autos. Bei manchen ist die Fahrertür geöffnet, Handtaschen lungern auf den Beifahrersitzen herum. Die Besitzerin mit Schlüssel springt in den Wagen, startet erst den Motor und schließt dann die Tür. Der Tag ist heiß, obwohl es noch früh ist.
An der Ecke ist die kleine Billigbäckerei. Vor dem Eingang steht eine Möwe und macht Terz, weil sie nichts abbekommt. Ihren gelben Schnabel reckt sie in die Höhe, ihren Körper plustert sie auf, lärmt in das Geschäft. Noa will nicht an der Möwe vorbeigehen, schaut in die Bäckerei. Aus dem Kaffeeautomaten tropft hellbraune Brühe in Pappbecher, in der Selbstbedienungsauslage schwitzt das belegte Brot Remoulade aus. Noa hat Hunger. Die Möwe bemerkt sie, läuft auf sie zu, mit Geschrei und ausgestreckten Flügeln. Noa rudert zurück, stolpert rückwärts, findet mit ihren Absätzen keinen Halt. Ihre Knie knicken ein, der Oberkörper fällt nach vorn, erschreckt die Möwe. Sie fliegt weg, und Noa liegt auf dem Bürgersteig. Ein alter Mann schaut sie verwundert an, als sie sich aufrappelt. In ihrem Knöchel zieht es. Beim Gehen merkt sie, dass sie humpelt. Sie läuft an der Bäckerei vorbei. Heute kein Brötchen mit Ei und Remoulade und keinen Milchkaffee dazu. Alle haben ihren Sturz gesehen, alle beobachtet, wie die Möwe sie fast angefallen hätte, denkt Noa und verflucht ihre Schuhe.
Im Glashaus zieht sie die Arbeitsschuhe an. Turnschuhe, dazu eine weiße Hose und ein Kittelchen, eine Haube, unter der die roten Haare versteckt werden müssen. Lange desinfiziert sie die Hände. Sorgfältig schmiert sie jeden Finger ein, lässt keine Hautstelle aus.
Die anderen stehen schon an den Töpfen. Überwachen, wie das Tiefkühlessen auftaut. Wie aus Blöcken Suppe wird und aus Klumpen Kartoffelbrei.
Sie nickt zur Begrüßung. Hier spricht man nicht. Außer wenn das Gehalt nicht überwiesen wurde oder ein neuer Mitarbeiter eingearbeitet werden muss. Noa liest die Namen von den Schildern auf der Brust ab, wenn sie eine Frage hat. Meistens gibt es keine Fragen. Was man wissen muss, steht auf der Tageskarte. Der, der als Erstes da ist, nimmt sich die beste Aufgabe. Deshalb schafft Noa es oft, sich den Salat zu sichern. Wenn sie bei Akim übernachtet hat, bleiben nur noch die Fische übrig.
Um das Fleisch kümmert sich immer die alte Frau. Von Antidepressiva ist sie aufgequollen. Ihre Wangen hängen herunter, ihre Augen liegen unter Fleischlappen. Noa fragt sich manchmal, ob sie überhaupt etwas sehen kann. Der Alten passiert es öfter, dass sie vor Tischkanten läuft, sie weigert sich, die Teller zu befüllen. Lieber schlägt sie mit dem Holzhämmerchen auf aufgetaute Schnitzel.
An der Spülmaschine arbeitet das junge Mädchen, das jeden Freitag um dreizehn Uhr in Ohnmacht fällt. Es darf dann früher gehen. Nicht nach Hause. Es betont jedes Mal, dass es kein Zuhause sei, in dem es da wohne, sondern eine Übergangslösung. Eine Art Kaserne. Noa fragt nicht weiter. Das Mädchen ist bleich. Das Mädchen hat keinen Schulabschluss, glaubt Noa. Zumindest kann es nicht sonderlich gut schreiben, und das Zählen gelingt nur selten. Am Spargel steht der Alte. Der, der am liebsten in den Töpfen rührt und Angst bekommt, wenn etwas am Topfboden anbrennt. Weil er so alt ist, rührt er mit einer Hand und stützt sich mit der anderen auf der Arbeitsfläche ab, bis er sich das Blut abklemmt. Dann schüttelt er so lange, bis wieder Blut reinfließt.
Wenn Noa an ihm vorbeischlurft, hört sie ihn murmeln. Vom Weltuntergang, von der Übernahme anderer Kräfte, vom neuen Zeitalter, das ihn nicht mehr brauche und die anderen schon gar nicht. Ein Zeitalter, in dem es keinen Spargel und keine Töpfe mehr gebe. Der Alte hat Angst, in der Kantine zu sterben, mit dem Kopf in das brodelnde Wasser zu fallen. Tot zu sein, noch bevor sein Gehirn verkocht ist. Der dampfende Gedanke ist das, worauf ich in meinem Leben noch warte, murmelt er Noa zu. Sie steht hinter ihm, schaut in den Spargeltopf. Wie weiße Fingerchen schwimmen die Stangen herum. Noa schnappt sich eine Zange. Dann geht sie zum Salat.
Acht. Vierundvierzig
Noa dreht sich um und läuft ein Stück rückwärts. Dabei muss sie darauf achten, nicht gegen Elija zu stoßen. Noa spürt Loth in ihrem Rücken.
Kannst du nicht normal laufen?, fragt Loth wenig interessiert und pflückt noch ein wenig Gras. Noa antwortet nicht, betrachtet wieder den Himmel. Die Fichtenspitzen stechen in das helle Blau. Ein Vogel kreist weit über dem Moor. Geschmeidig schraubt er sich höher und höher, wird ein immer kleinerer Punkt zwischen den mickrigen Wolken.
Du stößt gleich gegen Elija, pass mal auf, murrt Loth.
Noa läuft weiter rückwärts.
Kannst du das nicht, Loth?
Kann ich, aber ich will nicht. Ist doch bescheuert. Wenn man ordentlich laufen kann, muss man ja nicht behindert laufen.
Ich würde vielleicht mal überlegen, welche Wörter ich benutze, sagt Noa zu Loth.
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