Название: Elijas Lied
Автор: Amanda Lasker-Berlin
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Debütromane in der FVA
isbn: 9783627022846
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Elija beißt sich auf die Lippen, nimmt sich vor, nicht quengelig zu sein. Den ganzen Tag nicht.
Loth richtet sich auf. Sie überragt Elija um einiges. Elija mag nicht, dass sie immer nur Loths kleine Brüste sieht, wenn sie geradeaus blickt. Den Kopf in den Nacken legen, um Loths Gesicht zu sehen, will sie nicht. Und Loth hat keine Lust runterzuschauen.
Das ständige Runterschauen macht mich depressiv, denkt sie.
Elija guckt auf die Brüste und Loth auf die Scheibe der Bushaltestelle. Loth spiegelt sich. Ihre Haare sind noch feucht, wirken fettig, findet sie. Und das ist nicht gut. Auch nicht, wenn man ins Moor geht und den ganzen Tag nur Gräser und Sumpf zu sehen bekommt.
Was ist mit dem Schuh?
Was soll damit sein? Du hast diesen Knoten da reingemacht, und ich kriege ihn da nicht raus.
Bitte hilf.
Elija reißt die Augen weit auf. Bei Noa kommt sie damit immer durch. Aber Loth ignoriert Elijas Augen. Sie sind klein, werden von einer großen Lidfalte beschützt.
Loth sieht nur ihre Schultern, ihren Hals, ihr spitzes Kinn in der Scheibe.
Loth ist klapprig. Ihr Schlüsselbein steht hervor. Ihre Pulsader pocht blau in den Wald hinein. Unter ihren Wangenknochen fällt die Haut nach innen.
Früher hat Elija gedacht, Loths Wangenhaut würde vielleicht an den Zähnen festkleben. Jetzt weiß sie, dass Loth einfach nichts isst. Außer Bratwürste auf dem Weihnachtsmarkt. Und Käsehäppchen und Mettigel auf Partys.
Komm jetzt, wir gehen zu Noa. Die wartet schon.
Mein Schuh!
Da bist du selbst schuld dran. Komm jetzt. Vielleicht kriegt Noa das hin.
Loth dreht sich um. Blickt zu der Stelle, an der Noa vor wenigen Minuten auf den Moorwanderweg eingebogen ist. Ein Bogen aus Baumstämmen und ein Holzschild, das davor warnt, die Wege zu verlassen. Loth schaut hoch. Wenigstens sind einige Wolken am Himmel. Sie nimmt ihren Rucksack, setzt ihn auf. Von dem Gewicht biegen sich die Schultern nach vorn, schießt der Kopf in den Nacken. Loth läuft los. Unter dem Baumstammbogen zieht sie die Wanderkarte aus der Hosentasche, überprüft, ob sie sie so gefaltet hat, dass sie den ganzen Wegverlauf im Blick hat. Dann stellt sie sich auf die Planken. Sie lauscht. Wundert sich, dass sie Elija nicht heulen hört. Sie geht weiter, sieht Noa vor einem Bach hocken.
Elija setzt sich auf den Boden. So will sie nicht loswandern. Nicht mit Loth und nicht mit Noa. Kurz betrachtet sie den Schuh, guckt dann lieber schnell weg. Sie hat jetzt schon Durst, sie hat jetzt schon Hunger. Auf Kaiserschmarrn und Kirschsaft.
Vielleicht bleibe ich einfach hier, schreit sie in sich hinein, schlägt den Hinterkopf an die Scheibe. Ihr schwindelt es heftiger. Sie schlägt nochmals. Dann hört es auf, und sie sieht klar.
Die Bäume verstellen den Horizont. Ob hinter dem Moor wirklich der Berg mit den toten Stämmen kommt?
Elija legt beide Hände um den Knoten. Ihre Finger sind grob. Sie ist nicht so geschickt. Alle sagen ihr immer, das sei nicht so schlimm. Denn Elija hat Kraft. Sie zerrt an dem Knoten. Die Schnürsenkel ziehen sich zusammen, spannen das Innenfutter um den Fuß. Elija macht einen weiteren Knoten. Ganz nah an der Zunge. Der Schuh sitzt fest. Sie steht auf. Zum Glück hat sie ohne Tränen geweint. Sonst müsste sie jetzt ihr Gesicht abwischen.
Acht. Zwanzig
Noa stellt sich hin. Loth schlurft auf sie zu. Dahinter hüpft Elija. Loth zieht beim Laufen eine Zigarette aus ihrer Hosentasche, riecht daran. Noa mag, wie Loths Gesicht entspannter wird, wenn sie sich Tabak vor die Nase hält. Sie sieht anders aus als auf den Fotos, die sie ins Netz stellt. Die Bilder, die mehreren tausend Menschen gefallen. Bilder, auf denen Loth adrett gekleidet ist, die Haare streng frisiert, die Haut glattgeschminkt. Mit angespanntem Körper und eingemeißeltem Lächeln dasitzt und gefällt. An der man nicht vorbeischauen kann. Das Gesicht ist so schön. Fast unwirklich. Wie eine Statue, die die Blicke auf der glatten Oberfläche fängt. Eine Statue, die sagt: Ich bin lebendig. Aber wenn man sie berührt, ist sie doch nur kalter Stein.
Dieses ruhige Gesicht hat Noa an Loth lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal vielleicht als Jugendliche.
Als sie an den späten Abenden durch den Stadtteil streifen. Ohne Elija, nur die beiden. Ohne sich erklären zu müssen und ohne auf den Weg zu achten. In der Heimatstadt können sie laufen und laufen und kommen immer wieder an derselben Stelle an. Sie bleiben nur stehen, um mit Steinchen die letzten intakten Laternen zu zerschießen. In vollkommener Dunkelheit schleichen sie weiter. Verlaufen ist unmöglich. Loth und Noa haben Katzenaugen. Sie kommen an verlassenen Häusern vorbei, in denen die modrigen Gardinen aussehen wie suizidale Gespenster. An der geschlossenen Bäckerei entlang, direkt in den dünnen Streifen Wald. Kahle Baumkronen, und weit darüber ausgefranste Sterne. Dann und wann zielt Loth mit Eicheln auf sie. Unter den jungen Neubaugebietsbäumchen holt sie die Zigarette aus der Tasche, hält sie vor Noas Gesicht und lässt sie von den Sternen segnen. Ihr Feuerzeug leuchtet auf, und Loth räuchert sich die schlechte Laune aus dem Körper. Reicht die Zigarette weiter an Noa, die einmal zögerlich zieht.
Jetzt schiebt Loth die Zigarette behutsam zurück in ihre Hosentasche. Sie raucht nicht im Wald. Nicht im Sommer.
Noa bemerkt, dass ihre Hose beim Hocken nass geworden ist. Die Knie sind kühl. Sie schaut noch einmal in den Bach. Dunkles Laub, wenige glattgewaschene Steine überspült von dem klaren Wasser.
Elija fällt ihr um den Hals.
Habe meinen Schuh repariert!, quietscht sie. Elijas Körper ist warm. Wärmer als jeder andere Körper, den Noa je gefühlt hat. Elija ist weich. An jeder Stelle, und egal, wo man sie berührt, spürt man ihren zittrigen Tonus. Elija hält nie still. Ihr Atmen sammelt sich in Noas Ohr. Das klingt wie Thermalbadrauschen.
Du hast deinen Schuh repariert?, wiederholt Noa überdeutlich.
Hast du es jetzt doch hinbekommen?, fragt Loth und schaut skeptisch auf den Schuh.
Guck, guck, macht Elija, streckt das Bein aus und hält den Schuh in die Höhe.
Was ist das denn für ein Knoten?, lacht Noa bewundernd.
Elija-Knoten! Elija klatscht begeistert in die Hände. Loth verdreht die Augen.
Sie schaut über das Moor. Morgennebelschwaden hängen darüber. Schlucken die Bäume im Hintergrund. Der Bach glänzt. Loth holt ihre Sonnenbrille aus dem Rucksack und setzt sie auf. Mit der Brille sieht sie aus wie ein Insekt. Deshalb hat sie sie ausgesucht. Große Facettenaugen, denen nichts entgeht. Augen, aus denen sie herausschauen, in die aber niemand hineinblicken kann.
Jetzt geht’s los!, jubelt Elija und springt hoch. Bei der Landung wackeln die Planken. Noa und Loth strecken die Arme aus, um in Balance zu bleiben.
Dann immer geradeaus. Was anderes bleibt uns auch nicht übrig, denkt Noa und schaut auf das Wegstück vor sich.
Acht. Sechsundzwanzig
Loth hält Abstand zu den Schwestern. Elija läuft voran. Sie ist immer die Langsamste. Kann mit ihren kurzen Beinen und dem schweren СКАЧАТЬ