Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159618609
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»Das sind die Kinder«, sagte Mrs Parsons und warf einen halb ängstlichen Blick auf die Tür. »Sind heute noch nicht draußen gewesen. Und da ist es ja klar –«
Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze nicht zu Ende zu führen. Das Küchenspülbecken war fast randvoll mit einem schmierigen, grünlichen Wasser, das schlimmer als alles andere nach Kohl stank. Winston kniete sich hin und überprüfte den Knick des Abflussrohrs. Er hasste es, seine Hände zu benutzen, und er hasste es, sich bücken zu müssen, weil er dann meistens anfing zu husten. Mrs Parsons schaute ihm überfordert zu.
»Klar, wenn Tom da wär, hätt er das im Nu hingekriegt«, meinte sie. »So was liegt ihm. Er ist so geschickt mit den Händen, der Tom.«
Parsons war Winstons Kollege im Ministerium für Wahrheit. Er war ein untersetzter, aber agiler Mann von lähmender Dummheit, ein Koloss, der einen hirnlosen Eifer an den Tag legte – eines von diesen vollkommen ergebenen Arbeitstieren, die keine Fragen stellen und von denen, mehr noch als von der Gedankenpolizei, der Zusammenhalt der Partei abhing. Mit fünfunddreißig war er erst kürzlich gegen seinen Willen aus dem Jugendbund ausgeschlossen worden, und bevor er in den Jugendbund aufgestiegen war, war es ihm gelungen, ein Jahr länger bei den Spionen zu bleiben, als es die festgesetzte Altersgrenze vorsah. Im Ministerium hatte er einen untergeordneten Posten, bei dem man keine Intelligenz brauchte, aber andererseits war er eine wichtige Person im Sportkomitee und in allen anderen Komitees, die sich damit befassten, Gruppenwanderungen, spontane Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwillige Einsätze zu organisieren. Während er seine Pfeife paffte, ließ er einen mit stillem Stolz wissen, er habe sich im Verlauf der letzten vier Jahre jeden Abend im Kommunalen Zentrum blicken lassen. Wohin er auch ging, folgte ihm ein überwältigender Schweißgeruch, eine Art unbewusster Beweis dafür, wie anstrengend sein Leben war; dieser Geruch blieb in der Luft hängen, wenn Tom längst fortgegangen war.
»Haben Sie einen Maulschlüssel?«, fragte Winston und versuchte, den Schraubring am Kniestück zu drehen.
»Einen Maulschlüssel«, sagte Mrs Parsons und wirkte verunsichert. »Weiß nicht genau. Ob die Kinder vielleicht –«
Getrampel von Stiefeln und ein weiterer Tusch auf dem Kamm kündigten die Kinder an, die nebenan ins Wohnzimmer stürmten. Mrs Parsons brachte den Maulschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angewidert den Pfropfen aus Haaren, der das Abflussrohr verstopft hatte. So gut es ging, wusch er sich die Hände unter dem kalten Wasser aus der Leitung und ging in den anderen Raum zurück.
»Hände hoch!«, schrie eine wilde Stimme.
Ein hübscher, zäh wirkender Junge von neun Jahren war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit einer Spielzeugpistole, während die kleine Schwester, die etwa zwei Jahre jünger sein mochte, dieselbe Handbewegung mit einem Stück Holz machte. Beide trugen blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher, wie es die Uniform der Spione vorsah. Winston hob die Hände über den Kopf, aber mit gewissem Unbehagen, da der Junge sich so böse gebärdete, dass es nicht mehr nur ein Spiel war.
»Du bist ein Verräter!«, schrie der Junge. »Bist ein Gedankenverbrecher! Bist ein eurasischer Agent! Ich knall dich ab, ich vaporisier dich, ich schick dich in die Salzminen!«
Plötzlich sprangen beide um ihn herum und schrien »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen seinen Bruder mit jeder Bewegung imitierte. Irgendwie war das ein wenig beängstigend, ganz so, als tollten Tigerjunge herum, die schon bald groß sind und Menschen fressen werden. In den Augen des Jungen lag eine Art berechnende Wildheit, ein unverhohlenes Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und auch das Wissen, bald groß genug zu sein, um all das tun zu können. Bloß gut, dass er keine echte Pistole in der Hand hielt, dachte Winston.
Mrs Parsons’ Augen huschten nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. Im helleren Licht des Wohnzimmers stellte er interessiert fest, dass sich tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts abgelagert hatte.
»Die können ganz schon Krach machen«, meinte sie. »Sind enttäuscht, weil sie nicht bei der Hinrichtung zusehen können, das wird’s sein. Hab zu viel zu tun, kann nicht mit ihnen hingehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«
»Warum können wir nicht das Hängen sehen?«, brüllte der Junge.
»Wollen Hängen sehen! Wollen Hängen sehen!«, skandierte das Mädchen und sprang immer noch herum.
Einige eurasische Gefangene, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten, sollten am Abend im Park gehängt werden, wie Winston einfiel. Das geschah etwa einmal im Monat und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder forderten immer lautstark ein, dass man sie dorthin mitnahm. Winston verabschiedete sich von Mrs Parsons und ging zur Wohnungstür. Er war noch keine sechs Schritte den Flur hinunter gegangen, als ihn etwas im Nacken traf, ein furchtbar schmerzhafter Schlag. Ihm war, als hätte ihm jemand einen rotglühenden Draht ins Fleisch gebohrt. Als er herumfuhr, sah er gerade noch, wie Mrs Parsons ihren Sohn von der Tür in die Wohnung zurückzerrte, während der Junge eine Schleuder in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
»Goldstein!«, brüllte der Junge noch, als die Tür ins Schloss fiel. Doch was Winston am meisten erschütterte, war der Ausdruck hilfloser Furcht, der sich auf dem gräulichen Gesicht der Frau abzeichnete.
Zurück in der Wohnung, huschte er am Telemonitor vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, wobei er sich immer noch den Nacken rieb. Die Musik aus dem Telemonitor war verstummt. Stattdessen verlas eine abgehackt sprechende, militärisch geschulte Stimme mit einer Art grausamer Freude eine Beschreibung von der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die kürzlich zwischen Island und den Färöer-Inseln vor Anker gegangen war.
Mit diesen Kindern, dachte er, führte diese bedauernswerte Frau offenbar ein Leben in Angst. Ein Jahr noch, vielleicht auch zwei, und die beiden würden sie Tag und Nacht im Auge behalten, ob sie der Partei auch treu war. Heutzutage waren fast alle Kinder furchtbar. Am schlimmsten war jedoch, dass sie durch Organisationen wie die Spione systematisch in unbezähmbare kleine Wilde verwandelt wurden, und trotzdem rief das in ihnen kein Verlangen hervor, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, sie bewunderten die Partei und alles, wofür sie stand. Die Lieder, die Umzüge, die Banner, die Wanderungen, der Drill mit Übungsgewehren, das Brüllen von Parolen, die Verehrung des Großen Bruders – für die Kinder war all das ein tolles Spiel. Die ganze ungestüme, wilde Energie der Kinder wurde nach außen gerichtet, gegen die Staatsfeinde, gegen Fremde, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Leute über dreißig war es fast normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das aus gutem Grund, verging doch kaum eine Woche, in der die Times nicht einen Artikel darüber brachte, wie irgendeine kleine neugierige Petze – »Kinderheld« lautete die gängige Phrase – eine kompromittierende Bemerkung belauscht und daraufhin die eigenen Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.
Der Schmerz von dem Geschoss der Schleuder hatte nachgelassen. Halbherzig griff Winston zum Federhalter und fragte sich, ob es noch irgendetwas gab, das er ins Tagebuch schreiben könnte. Plötzlich СКАЧАТЬ