Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Michael Heymel
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Название: Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

Автор: Michael Heymel

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783290177300

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СКАЧАТЬ provozieren, so dass sie etwas zu sehen bekommen, was ihnen »einleuchtet«. Das ist eines der Geheimnisse seiner Schriftstellerkunst, das uns auch in seinen Erbaulichen Reden begegnen wird.

      Ein anderes Geheimnis seiner Schriftstellerkunst, das er als Kind bei seinem Vater gelernt hat, ist die Kunst der Dialektik:

      »Mit einer allmächtigen Einbildungskraft verband der Vater eine unwiderstehliche Dialektik. Wenn da bei der einen oder anderen Gelegenheit der Vater sich in ein Wortgefecht mit einem andern einließ, so war Johannes ganz Ohr, und das um so mehr, als alles in einer beinahe feierlichen Ordnung vor sich ging […] Der Vater ließ den Widerpart jederzeit völlig ausreden, fragte ihn auch noch aus Vorsicht, ob er noch mehr zu sagen habe, eher er mit seiner Antwort begann. Johannes war dem Vortrage des Widerparts mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, war auf seine Weise mit daran interessiert, wie es ausging. Die Pause trat ein, die Erwiderung des Vaters folgte, und sieh! Im Handumdrehen war alles anders. Wie das zuging, blieb für Johannes ein Rätsel; aber seine Seele vergnügte sich an diesem Schauspiel. Der Widerpart sprach zum andern Mal. Johannes war noch aufmerksamer, um alles richtig festzuhalten; der Widerpart wurde eindringlich. Johannes konnte beinahe sein |24| Herz klopfen hören, so ungeduldig wartete er, was da wohl geschehen werde. Es geschah; in einem Nu war alles umgekehrt, das Erklärliche unerklärlich gemacht, das Gewisse zweifelhaft, das Gegenteil einleuchtend. Wenn ein Hai seine Beute packen will, so muß er sich auf den Rücken herumwerfen, denn sein Rachen sitzt auf seiner Bauchseite; Er ist am Rücken dunkel, silberweiß unter dem Bauche. Es soll ein herrlicher Anblick sein, diesen Wechsel in der Farbe zu sehen: sie soll zuweilen so stark blinken, daß es dem Auge nahezu wehe tut, und doch macht es Freude, es anzuschauen […] Eines ähnlichen Wechsels Zeuge wurde Johannes, wenn er den Vater disputieren hörte. Er vergaß das Gesagte wieder, sowohl das, was der Vater als auch das, was der Widerpart gesagt hatte, aber dies Erschauern der Seele vergaß er nicht.«18

      Mit der Kunst der Dialektik und der Kunst einer intensiv ausgebildeten Vorstellungsgabe war Kierkegaard ausgestattet, als er sich 1830 an der Universität Kopenhagen einschrieb, natürlich für Theologie, denn so hatte es ja sein Vater vorgesehen. Doch eben dieser Vorsehung des Vaters suchte sich der Sohn im Laufe seines Studiums mehr und mehr zu entziehen, zuerst in die Philosophie und in das kulturelle Leben seiner Zeit, dann in ein ausschweifendes, kostspieliges Studentenleben, dessen Unkosten der Vater dennoch bereitwillig bezahlte, schließlich in ein Langzeitstudium, das auch im 16. Semester noch lange kein Ende zu nehmen schien. Wonach er suchte, notiert der 22-jähriger Student in sein Tagebuch19, sei eine »Wahrheit für mich«, und nicht Wissensvermehrung, nicht Erkenntnisgewinn, die »für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung« hätten. Schon hier deutet sich die Richtung an, die sich später in dem programmatischen Satz Kierkegaards verdichten wird: »Die Subjektivität ist die Wahrheit«.

      Es sind dann aber doch zwei objektive Ereignisse im Jahr 1838, die dem Leben wie dem Studium Kierkegaards eine entscheidende Wende geben: Einmal stirbt im März sein geliebter Lehrer und Freund Poul Möller, der seinem Schüler vielleicht einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität hätte besorgen können. Wichtiger noch ist der Tod seines Vaters im August, was Kierkegaard mit den Zeilen im Tagebuch kommentiert:

      »Mein Vater starb am Mittwoch, dem 8., nachts 2 Uhr. Ich hatte so innig gewünscht, daß er noch einige Jahre gelebt hätte, und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, |25| das er seiner Liebe zu mir brachte, denn er ist nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann«.20

      Mitten zwischen diesen beiden Todesdaten liegt ein Ereignis, das Kierkegaard in seinem Tagebuch nicht nur mit einem Datum, sondern sogar mit Uhrzeit versieht: 19. Mai, vormittags 10 ½ Uhr. Es wird die Stunde seiner »Bekehrung« genannt. Der Begriff scheint mir deshalb falsch gewählt, weil in »Bekehrung« ein aktives Moment des sich bekehrenden Menschen mitschwingt, der sich gleichsam mit einem Sprung in den Glauben versetzt hat. Die Tagebuchnotiz Kierkegaards klingt aber ganz anders. Sie ist eher Ausdruck einer Überwältigung, die mit ihm vor sich gegangen ist:

      »Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärbar durchglüht, wie des Apostels Ausbruch unbegründet hervorbricht: ›Freuet euch, und abermals sage ich: Freuet euch‹. Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele vollgültiger Ausruf ›mit Zung und Mund und aus Herzens Grund‹: ›ich freue mich an meiner Freude, aus, in, bei, an, durch und mit meiner Freude‹ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht«.21

      Die sich überschlagende Sprache zeigt an, dass es um das überwältigende Widerfahrnis einer »unbeschreiblichen Freude« geht, für die Kierkegaard kaum noch Worte findet, so dass er Anleihen bei Paulus in Phil 4,4 und Gen 18,1 machen muss, das Gleichnis eines Windhauches bzw. einen »Stoß des Passats« bemüht, um anzudeuten, dass er vom Heiligen Geist als einem Geist der Freude erfüllt worden ist. Das bringt ihn kurz darauf zu dem Entschluss: »Ich will mir Mühe geben, in ein weit innerlicheres Verhältnis zum Christentum zu kommen«.22 Bisher sei er eigentlich nur ein Simon von Kyrene im äußerlichen Kreuztragen Christi gewesen. Nun aber komme es ihm auf innerliche Nachfolge Jesu an.

      Was also von innen her schon vorbereitet ist, wurde durch den Tod des Vaters zu einem festen Vorsatz, mit den ihm geschenkten väterlichen Gaben der Dialektik, der Rhetorik und der Einbildungskraft für ein »Christentum mit Leidenschaft« zu arbeiten. Umgehend begann er seine Examensvorbereitung, um die Theologische Staatsprüfung abzulegen und in ein Pfarramt einzutreten. Als Viertbester bestand er zwei Jahre darauf die Prüfung und begann |26| eine Magisterarbeit »Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates«, die er am 29.9.1841 vor der Universität erfolgreich verteidigte.

      Kurz nach seiner Theologischen Staatsprüfung verlobte er sich mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, in die er sich seit drei Jahren mehr und mehr verliebt hatte. Es schien so, als ob nun bei Kierkegaard alles in geordnete Bahnen auf dem Weg zu einem Pfarramt kam. Auch die zukünftige Pfarrfrau schien gefunden. Doch es schien nur so, während in Wirklichkeit in dem Verlobten ein Konflikt ausbrach, der seine Anlage zur Schwermut erneut weckte und ihn in tiefe Ratlosigkeit stürzte: Einerseits sah er sich durch seine grenzenlose Liebe zu Regine und durch seine Vorstellung von einer radikalen Offenheit gegenüber seiner zukünftigen Ehefrau verpflichtet, ihr sein Inneres und seine ganze Familiengeschichte zu offenbaren; andererseits fühlte er sich außerstande, ihr den Fluch und die daraus resultierende Schwermut zu gestehen, von der er glaubte, dass sie über seinem Vater, über ihm selbst und der ganzen Familie liege. Diese Geliebte zu heiraten, das hieß für ihn, sie in den Abgrund einer verfluchten Familiengeschichte und einer Schwermut hineinzuziehen, von der Kierkegaard später in sein Tagebuch schreibt, dass sie gleichsam seine Schwester geworden sei. Entweder heiratet er Regine und macht sich schuldig an ihr, oder er heiratet sie nicht und macht sich schuldig an ihr, weil Verlobung in seinen Augen, aber auch vor den Augen der Gesellschaft Kopenhagens im 19. Jahrhundert, eine unbedingte Verpflichtung zur Heirat war. Regine spürte, dass mit ihrem Verlobten irgendetwas vor sich ging, was sie nicht einordnen konnte. Doch je mehr sie ihn mit Liebeserweisen überhäufte, desto ablehnender wurde er und gab ihr schließlich am 11.10.1841 den Verlobungsring zurück. Unter unsäglichen Schmerzen musste Kierkegaard lernen, dass ein Mensch entweder so oder so schuldig werden kann und dann unweigerlich mit Schuld leben muss. Das war sein Konflikt, den er nun, kaum dass er vierzehn Tage nach der Entlobung gen Berlin abgereist war, als einen grundsätzlichen Existenzkonflikt des Menschen wieder und wieder in seinen pseudonymen Schriften, in seinen erbaulichen Reden und natürlich auch in seinen Tagebüchern psychologisch, philosophisch und vor allem theologisch reflektierte.

      |27| Ich breche an dieser Stelle mit meinen Annäherungen an Kierkegaards Leben ab, denn es ist erst einmal genug, um den biografischen Hintergrund eines Großteils seines Werks zu verstehen. Anderes folgt, wenn eine Reihe seiner erbaulichen Reden zumindest in Ausschnitten СКАЧАТЬ