Название: Das Wagnis, ein Einzelner zu sein
Автор: Michael Heymel
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783290177300
isbn:
11.11.1855 Kierkegaards Tod im Frederikshospital zu Kopenhagen
Die wenigen Daten erwecken vielleicht den Eindruck, dass die 42 Jahre von Kierkegaards Leben doch wenigstens in den ersten 25 Jahren ziemlich ruhig und beschaulich in Kopenhagen verlaufen seien: Jüngstes Kind einer kinderreichen Familie, Vater ein Wollwarenhändler, der es zu einigem Reichtum im Laufe des Lebens gebracht hat, so dass der Sohn nach einem elfjährigen Theologiestudium samt Prüfungen und Magisterexamen es sich leisten konnte, nicht ins Pfarramt zu gehen, sondern von dem ererbten Vermögen seines Vaters als freier Schriftsteller zu leben und eine Menge Bücher zu schreiben. Berühmt machte ihn gleich sein erstes Werk »Entweder-Oder«, das in den literarischen Kreisen Kopenhagens großen Beifall fand. Neben der ersten Berlinreise wären noch drei kürzere Berlinreisen zu nennen und eine Reise nach Nord-Jütland, wo sein Vater 1756 geboren worden war. Schließ-lich gab es noch ein paar Ausflüge an die Nordspitze Seelands und nach Jütland. Das war aber schon die ganze Reise- und Ausflugstätigkeit Kierkegaards, insgesamt nicht einmal ein ganzes Jahr in seinem Leben.
|19| Wo liegt das Aufregende und Rätselhafte dieses Lebens, das so unendlich viele Biografien und Abhandlungen über Kierkegaards Leben hervorgebracht hat, wie z. B. die jüngste Biografie des Dänen Joakim Garff, die im Jahr 2000 in Kopenhagen und 2005 in Deutschland erschien und nahezu 1000 Seiten umfasst. Das Aufregende an Kierkegaards Leben deutet sich bereits in drei so dürren Daten an wie: 1841 Entlobung, 1846 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«; 1855 »Kampf gegen die dänische Staatskirche«. Das sind gleichsam die Explosionen in Kierkegaards Leben. Doch auch diese Daten offenbaren noch nicht sehr viel, zumal heute eine »Entlobung« gleichgültig zur Kenntnis genommen oder gar als Glücksfall zur Verhinderung einer unglücklichen Ehe angesehen wird. Das wahrhaft Explosive ereignete sich bei Kierkegaard eher als Implosion, d. h. nach innen gerichtete Katastrophe eines durch und durch reflektierten Lebens, an dessen Verlauf wir vor allem in Gestalt von Tagebüchern – in der deutschen |20| Auswahlausgabe sind es fünf Bände mit fast 2000 Seiten – und einem schmalen Briefband teilhaben dürfen. Diese Texte wie auch die pseudonymen Schriften und Reden Kierkegaards lassen durchscheinen, wie viel Schmerzen und Anfechtung, welche Höhen und Tiefen, wie viel Begeisterung und Leidenschaft sich in einem Leben ereignen können.
Neben den Lehrern und Freunden der Universität, neben den Angehörigen der Familie, neben so manchen anderen Kopenhagenern aus näherer und fernerer Umgebung sind es vor allem zwei Personen, um die Kierkegaards Reflektieren wieder und immer wieder kreist: 1. Sein Vater und 2. seine Verlobte. Der eine war ihm seit dem 8.8.1838 durch den Tod, die andere durch eine von ihm selbst betriebene rätselhafte Entlobung seit dem 11.10.1841 entzogen. Dieser Entzug löste aber in Kierkegaard einen umso stärkeren Bezug der Reflexion zu beiden aus, weil er beide in einer »Erinnerung nach vorn« (Lothar Steiger), in Richtung auf Ewigkeit, stets innerlich vor Augen hatte. Dieser Bezug ging so weit, dass sich im Tagebuch am 27.3.1848 die Notiz findet:
»Jetzt, da ich mich so gänzlich darin verstehe, ein einsamer Mensch zu sein, ohne Verhältnis zu irgendjemandem, mit tiefen Schmerzen in meinem Innern, nur mit einem einzigen Trost: Gott, der Liebe ist; mit Verlangen nur nach einem einzigen Freund, auf daß ich ganz ihm gehöre, dem Herrn Jesus Christus; mit Sehnsucht nach einem verstorbenen Vater; schlimmer als durch den Tod getrennt von dem einzigen lebenden Menschen, den ich in entscheidendem Sinn geliebt habe.«13
Es ist auffällig, dass die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater ebenso wie die Sehnsucht nach seiner ehemals Verlobten, die er nicht einmal beim Namen zu nennen wagt, mit Kierkegaards glühendem Glauben an den »Gott, der Liebe ist«, und mit seinem Verlangen nach Jesus Christus, der sein einziger Freund ist, verbunden sind. Die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater begleitete Kierkegaard ein Leben lang so stark, dass er ihm, wie bereits angedeutet, fast alle seine »Erbaulichen Reden« widmete: »Dem verstorbenen Michael Pedersen Kierkegaard, weiland Wollwarenkrämer hier in der Stadt, meinem Vater, seien diese Reden gewidmet«.14 Die Sehnsucht nach Regine, seiner ehemals Verlobten, ging so weit, dass sich in seinem Testament die Notiz fand: »Die unbekannte Person, deren Name einmal genannt werden wird, der das ganze Werk gewidmet ist, ist meine |21| frühere Verlobte: Frau Regine Schlegel«.15 Fragen wir also, was Kierkegaard ein Leben lang so innig an seinen Vater gebunden hat, und fragen wir zum anderen, was ihn noch viel inniger ein Leben lang an Regine gebunden hat, von der er sich doch durch eine Entlobung getrennt hatte.
Der Vater
Michael Pedersen Kierkegaard stammte aus ärmlichen Verhältnissen in Jütland. Die bittere Armut seiner Heimat muss ihn schon als kleines Kind so sehr verbittert haben, dass er als Hütejunge an einem frostigen Herbsttag auf einen Hügel stieg, die Fäuste gen Himmel reckte und Gott verfluchte, weil er ihn in einem derart elenden Dasein leben ließ. Diesen Fluch muss aber Michael Pedersen, der von der Herrnhuter Frömmigkeit geprägt war, nie mehr vergessen haben, auch dann nicht, als er zu einem reichen Verwandten nach Kopenhagen in die Kaufmannslehre kam, bald ein eigenes Geschäft als Wollwarenhändler mit großem Erfolg aufbaute und reich wurde. Als er in erster Ehe kinderlos blieb und seine Frau frühzeitig starb, und als er dann seine Magd heiratete, mit der er sieben Kinder bekam, von denen fünf in noch jungem Alter starben, da kam er zu der Überzeugung, dass seine kindliche Gottesverfluchung auf ihn und seine Familie zurückgefallen sei. Als seine Frau das 7. Kind erwartete, fasste der schon 56-jährige Michael Pedersen den Entschluss, dieses Kind Gott als Opfer darzubringen. Er gelobte, wie einst Hanna vor der Geburt ihres Sohnes Samuel (1Sam 1), dieses Kind solle Gott in besonderer Weise priesterlich gehören. So wollte er den verfluchten Gott versöhnen. Sören Aabye war also schon bei seiner Geburt am 5. Mai 1813 ein »Geopferter« und nahm diese Bestimmung, je mehr er sie im Lauf der Jahre begriff, als seine Lebensbestimmung an.
Es ist klar, dass der Vater mit diesem Sohn aufs Engste verbunden blieb und sich um dessen Erziehung in ganz besonderer Weise kümmerte. Kierkegaard gibt in einer unvollendeten und erst posthum veröffentlichten Schrift »De omnibus dubitandum est« auf pseudonyme Weise mit einer Erzählung einen Einblick in diese Erziehung:
|22| »Sein Vater war ein sehr strenger Mann, dem Anschein nach trocken und prosaisch, indessen er unter dieser Friesjacke eine glühende Einbildungskraft verbarg, die auch sein hohes Alter nicht abzustumpfen vermochte. Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Das war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hin gehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem nahe liegenden Lustschlösschen oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme |23| des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was ihm unbekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so überwältigt und müde worden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre. Die Zauberkunst des Vaters lernte Johannes ihm bald ab.«16
Hier liegt die Wurzel für die herausragende Gabe der Phantasie, die Kierkegaard auszeichnete. Sein Vater hat sie mit Hilfe der phantasievollen Spaziergänge im Wohnzimmer ausgebildet. Sie beflügelte den Sohn in seinen Schriften so sehr, dass seine Argumentation häufig durch eines seiner Gleichnisse zur Evidenz und d. h. zu einleuchtender Kraft gebracht wird. Es sind Gleichnisse, die den Leser zu eigener Einbildungskraft einladen. Der amerikanische Theologe T. C. Oden hat in seinem Buch »Parabels of Sören Kierkegaard«17 alle Schriften auf Gleichnisse hin durchforscht. Er kam auf insgesamt 533 Gleichnisse СКАЧАТЬ