Название: Das Wagnis, ein Einzelner zu sein
Автор: Michael Heymel
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783290177300
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Kierkegaard wollte, dass seine Schriften, vor allem seine Reden, laut gelesen werden. Deshalb haben wir die Vorlesung jeweils in der Universitätskirche begonnen, um eine der ausgewählten Reden in gekürzter Fassung2 laut zu Gehör kommen zu lassen. Anschließend ging es in den Hörsaal, wo das Gehörte interpretierend in den Kontext von Kierkegaards Glauben und Denken gestellt wurde. Schließlich haben wir den Versuch gewagt, von Kierkegaards Impulsen aus einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, um nicht bloß über Kierkegaard zu reden, sondern mit ihm weiterzudenken. Dieser Dreischritt bestimmt auch die zehn Kapitel in Hauptteil B des vorliegenden Buches.
Wir danken den Hörern und Hörerinnen unserer Vorlesungen für die engagierte und kritische Teilnahme, besonders Annette Röhrs und Rico Drechsler für hilfreiche Vorschläge zur Überarbeitung unseres Manuskripts.
Wir grüßen Lothar Steiger, der als ein Schüler von Hermann Diem und Hans-Georg Gadamer in seinen Wuppertaler wie Heidelberger Vorlesungen und Seminaren ebenso wie mit seinen tiefschürfenden Aufsätzen3 viele Studierende für Kierkegaard begeistert, den Wuppertaler Freund inspiriert |9| und den Heidelberger Schüler auf den Weg gebracht hat, das Humane bei Kierkegaard zu lernen.4
Michael Heymel / Christian Möller
Heidelberg,
im Jahr des 200. Geburtstags von Sören Kierkegaard
am 5. Mai 2013
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Teil A
1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben
Der rätselhafte Kierkegaard
Selten war ein Mensch sich selbst, seiner Mitwelt wie seiner Nachwelt so rätselhaft wie der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geborene und am 11. November 1855 in Kopenhagen gestorbene Sören Aabye Kierkegaard. In einer geselligen Abendrunde konnte er der witzigste und geistreichste Teilnehmer |12| sein, so dass alle denken mussten, was für eine glückliche Natur dieser junge Student sei. Dann aber ging Kierkegaard nach Hause und schrieb in sein Tagebuch:
»Ich komme jetzt gerade von einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, Witze strömten mir nur so aus dem Mund, alle lachten, bewunderten mich – aber ich ging –––––, ja der Gedankenstrich müsste genauso lang sein wie die Radien der Erdbahn und wollte mich selbst erschießen.«5
Er kleidete sich gelegentlich wie ein Dandy und spazierte am Nachmittag durch Kopenhagens Hauptstrasse mit seinem Spazierstock, als genieße er das Leben und sei ein Müßiggänger. Doch kaum war es dunkel geworden, eilte er zurück in seine Wohnung und arbeitete bis Mitternacht an mehreren Stehpulten weiter, sei es an seinem Tagebuch, an einer pseudonymen Schrift oder an einer erbaulichen Rede.
Gab er sein erstes Hauptwerk »Entweder-Oder« in zwei Bänden 1843 heraus, so gab er dem Verfasser das Pseudonym Victor Eremita (der siegreiche Einsiedler). Natürlich sprach sich bald in Kopenhagen herum, dass Kierkegaard in Wahrheit der Verfasser sei. Und doch ließ sich der wahre Verfasser auf der Straße oder an anderem Ort nicht auf sein Werk ansprechen, sondern war nur bereit, über den pseudonymen Verfasser und dessen Werk zu reden. Warum dieses Versteckspiel? Probiert hier einer die Rollen seiner Existenz aus, erprobt er Möglichkeiten des Lebens und spielt sie durch, um sie seinem Leser zuzuspielen?
Das macht es so schwer, Kierkegaards Leben auf die Spur zu kommen: Bei fast jeder seiner Äußerungen bezieht er sich auf seinen Leser und entzieht sich doch zugleich, als wollte er sagen: Hier bin ich und bin es doch nicht. Nennt mich meinetwegen den »Sokrates Kopenhagens«. Ja, ich habe über Sokrates und dessen Ironie eine Magisterarbeit6 geschrieben. Mit dieser Rolle könnte ich mich angesichts der Geisteszustände Kopenhagens gut anfreunden, wie mir Sokrates überhaupt zu dem Weisen des Altertums geworden ist. Mit ihm vergleichen könnte ich mich freilich nicht.
Nennt mich den »Spion Gottes«, wie ich es selbst einmal in mein Tagebuch geschrieben habe. Das bin ich und bin es doch nicht, denn Gott ist im Himmel und ich auf der Erde. ER weiß, was er mit mir vorhat.
|13| Nennt mich einen »Philosophen«! Ja, ich habe viel Philosophie studiert, habe Schelling in Berlin gehört, habe mich mit Hegel an vielen Stellen meiner Schriften direkt oder indirekt auseinandergesetzt, wäre gern der Nachfolger meines verehrten philosophischen Lehrers Poul Möller an der Universität Kopenhagen geworden, habe auch eine kleine Schrift mit dem Titel »Philosophische Brocken« mitsamt einer sehr langen »Unwissenschaftlichen Nachschrift« herausgegeben, aber ein Philosoph bin ich nicht, auch wenn mich die Philosophiegeschichte zum Begründer der »Existenz-Philosophie« machen will.
Nennt mich einen »Psychologen«! Ja, ich habe zwei meiner Schriften Untertitel gegeben, die mein großes Interesse an der Psychologie zum Ausdruck bringen: »Eine schlichte psychologisch andeutende Überlegung« (»Der Begriff Angst«) und »Eine christlich-psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung« (»Die Krankheit zum Tode«); auch hat mein Verständnis vom »Selbst« besonders in der humanistischen Psychologie eine große Bedeutung gewonnen. Aber ein Psychologe bin ich gleichwohl nicht, denn ich habe eigentlich nur mich selbst im Licht Gottes reflektiert und dabei festgestellt: »Je mehr Vorstellung von Gott, um so mehr Selbst; je mehr Selbst, umso mehr Gottesvorstellung«.7
Nennt mich einen »Theologen«! Ja, ich habe auch Theologie studiert, 10 Jahre lang, und habe sogar ein theologisches Examen in Kopenhagen gemacht, habe eine Probepredigt für Kandidaten gehalten und die Anstellungsfähigkeit für die Kirche erworben, aber ich bin kein Pfarrer geworden, habe nicht die Ordination der Kirche erhalten und habe doch oftmals mit dem Gedanken gespielt, irgendwo in einem Dorf Dänemarks Pfarrer zu werden. Letztlich aber war das mir nicht möglich.
Das Schlimmste aber wäre, wenn irgend so ein Professor über mich und mein System dozieren würde. Denn ich habe gar kein System und gehöre keiner Schule an, auch wenn sich Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Carl Rogers, Rudolf Bultmann, Karl Barth u. a. häufig auf mich berufen haben.
Der religiöse Schriftsteller
Wer aber ist dann eigentlich dieser Sören Kierkegaard? Er spürte wohl, wie oft diese Frage von seinen Lesern an ihn herangetragen wurde, vielleicht auch in ihm selbst arbeitete, bis er schließlich eine kleine Schrift im Jahr 1851 |14| herausgab: »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller«8. Darin legte er sich endlich einmal fest: Religiöser Schriftsteller sei er, der »ohne Vollmacht« auf das Religiöse, das Erbauliche, das Christliche aufmerksam mache. »Ohne Vollmacht« heißt für Kierkegaard nicht nur, ohne kirchliche Bevollmächtigung, sondern auch ohne den Anspruch, ein besserer oder gar vollkommener Christ zu sein. Vielmehr betrachte er sich am liebsten als einen Leser seiner Bücher, nicht als deren Verfasser.
Und was ist das »Religiöse« dieses »religiösen Schriftstellers«? Auch hier legt Kierkegaard sich in derselben kleinen Schrift fest und nennt eine Kategorie, die für ihn so maßgeblich wurde, dass er eine Zeitlang sogar erwog, sie auf seinen Grabstein setzen zu lassen: »DER EINZELNE«: »Die Bewegung ist: fort vom Publikum zum ›Einzelnen‹.« Religiös gebe es nämlich СКАЧАТЬ